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Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt
Autoren: James W. Nichol
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nahm einen gefalteten Brief heraus, der obenauf lag, und überreichte ihn Walker. Dabei fiel ein kleines Farbfoto aus dem Brief.
    »Hoppla«, sagte sie.
    Walker sah sie an. Sie schüttelte den Kopf. »Die Polizei hatte die zwei Sachen auch und ist damit nicht weitergekommen.«
    Er nahm das Foto. Zwei kleine Mädchen trieben auf einem See, die eine hielt sich an einem Schwimmreifen fest, die andere saß rittlings auf einer Luftmatratze. Sie sahen selbst nicht viel älter als drei Jahre aus.
    Zwischen den beiden Mädchen, das Wasser bis zur Taille, stand eine attraktive Frau, eine Hand auf dem Reifen, die andere auf der Schulter des kleinen Mädchens auf der Matratze. Das Haar der Frau steckte unter einer weißen Badekappe, und sie trug einen schwarzen Badeanzug. Sie lächelte die Person an, die, im tieferen Wasser stehend, das Foto machte. Hinter ihnen – und zwar ziemlich weit hinten, denn es sah so aus, als stünden sie weit draußen im See – leckten kleine, trübe Wellen über einen Sandstrand.
    Oberhalb des Strandes warf auf der einen Seite des Fotos eine steile, mit Kiefern gesäumte Sandklippe ihren Schatten über das Wasser. Auf der anderen Seite duckte sich eine niedrige rötliche Blockhütte mit einer verglasten Veranda in ausgedörrtes Gras. Davor stand ein Fahnenmast ohne Fahne. Etwas näher am Wasser ragte ein großer, runder, blendend weiß gestrichener Felsbrocken aus dem Sand.
    »Hinten steht was drauf«, sagte Carolyn.
    Walker drehte das Foto um und las, was mit Bleistift darauf geschrieben war: »Mary’s Point, 2. Juni 1964.«
    »Flash«, flüsterte Stewey, der Walker über die Schulter spähte, »vielleicht ist das deine Mutter.«
    Walker brannten die Augen. Er drehte das Foto wieder um. Das lächelnde Gesicht der Frau war jetzt verschwommen.
    Walker rechnete nach. Er war irgendwann um 1976 geboren, das Foto war also zwölf Jahre älter. Soweit er das beurteilen konnte, war die Frau Mitte Dreißig, sie müsste also um die siebenundvierzig gewesen sein, als er geboren wurde. War das möglich, mit siebenundvierzig ein Kind zu bekommen?
    »Ich glaube nicht, dass das Ihre Mutter ist«, sagte Carolyn sanft. »Wenn man den Brief liest.«
    Walker hatte das Gefühl, seine Finger gehörten nicht zu ihm. Er faltete das Papier auseinander. Der Brief war, nicht allzu säuberlich, mit blauem Kugelschreiber geschrieben.
    Liebe Lennie!
    Ist ja toll! Ich kann’s gar nicht erwarten!
    Rat mal, was ich gefunden habe? Sind wir nicht süß? Glaubst du, er sieht dir ähnlich? Nur hübscher? War nur Spaß. Aber er ist sicher gaaanz süß! Wie sein Vater, oder? Und ich bin noch immer Jungfrau! Das darf ja nicht wahr sein! Und dabei hab ich mich diesen Sommer doch so bemüht!! Egal, bald bist du da, mit deinen zwei Männern. Ich hab auch schon ein Geschenk für ihn, den kleinen, mein ich. Um den großen kümmerst ja du dich, oder??? Ich hasse Geheimniskrämerei, aber ich schwöre bei Gott, ich hab wirklich den Mund gehalten. Drei Jahre lang!!! Wenn das kein Rekord ist!
    Ich muss gleich Schluss machen, weil ich zur Bridge muss, und ich bin eh schon spät dran. Ruf gleich an, wenn du da bist, oder wenn das nicht geht, schick mir eine Brieftaube mit einer Botschaft, irgendwas! Ich sehne mich so, so danach, dich zu sehen! Alle zu sehen! Der große Vogel, in toto. Toll!
     
    Deine beste Freundin, auf immer und ewig
    Alles Liebe, Liebe, Liebe
    Kim
    Walker sah zu Carolyn hoch. »Wo haben die das her?«
    »Es steckte in Ihrer Tasche, als man Sie fand. Der Brief und dieses Foto, so steht’s im Polizeibericht. Aber leider war das auch alles.«
    »Darf ich mal?«, sagte Stewey und zog an einer Ecke des Briefes.
    Walker ließ ihn los und wandte sich wieder dem Foto zu. Jetzt interessierte ihn nicht mehr die Frau, sondern die beiden kleinen Mädchen. Die eine mit dem Schwimmreifen war halb abgewandt, Strähnen ihres dunklen nassen Haares klebten an ihrem Gesicht und den nackten Schultern. Die andere, mit ihrer gelbgetupften Badekappe und dem gerüschten gelben Badeanzug, lächelte direkt in die Kamera.
    »Die Kleinen sind wahrscheinlich so um die drei. Wenn also eine von ihnen meine … meine Mutter ist«, Walker rechnete wieder nach, »und dieses Foto 1964 geknipst wurde …«
    »Wäre sie ungefähr fünfzehn gewesen, als Sie auf die Welt kamen.«
    »Mensch.«
    Stewey beugte sich herüber, um sich das Foto noch einmal anzusehen. »Welche, glaubst du, ist es?«
    Walker kam sich lächerlich vor, während er die Mädchen ansah,
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