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Die Gordum-Verschwörung

Die Gordum-Verschwörung

Titel: Die Gordum-Verschwörung
Autoren: Bernd Flessner
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Morgenstunde schon geöffnet, entweder, weil Hauptsaison war, oder weil sich der Mord im Hafen von Greetsiel schon herumgesprochen hatte. Greven wusste es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Er setzte sich an einen Tisch, der ihm freie Sicht auf den Hafen und den Tatort gewährte, bestellte sich einen Espresso, wenig später einen zweiten. Ostfriesentee war nicht mehr sein Ding, obwohl er hier aufgewachsen war. In Frankfurt hatte er ihn sich abgewöhnt und war auf die Kaffeebohne umgestiegen. Er beschickte seine Tasse mit Zucker, den er aus einem bunt bedruckten Tütchen in die Crema rieseln ließ. Der Espresso war nicht schlecht. Eine gute Mischung. Er überlegte kurz, ob er den Wirt nach der Marke fragen sollte.
    Vor ihm lag der Kutterhafen, dahinter der Yachthafen. Die Fischkutter waren, bis auf vier, alle auf See, der Hafen also faktisch leer. Doch im Yachthafen lagen mindestens fünfzig Segelschiffe, Motoryachten, Plattbodenschiffe und kleinere Boote, auch einige, die das Attribut ‘exklusiv’ verdienten und mit Sicherheit nicht unter einer Million zu haben waren. Greven konnte deutsche, niederländische und dänische Flaggen erkennen. Und mittendrin den umgebauten alten Fischkutter, auf dem Harm mit eingeschlagenem Schädel scheinbar schlafend auf den Decksplanken lag.
    Am Deich hatten sie sich immer getroffen, nach der Schule, etwa dort, wo man vor einigen Jahren das Hafenbecken ausgebaggert und den Yachthafen gebaut hatte. Damals gab es nur Salzwiesen, Watt, Schlick und Treibholz, das als Nahrung für diverse Lagerfeuer diente, die man, vor allem an milden Sommerabenden, zum Diskutieren, Politisieren, Gitarrespielen und Entfachen von Utopien benötigte. Billiger Rotwein oder eine Flasche Martini von Meener Rahs Kiosk, frisches Weißbrot von Bäcker Gersema und hier und da ein Joint machten die Welt verfügbar, veränderbar. Dann lagen sie im Gras, Karl, Margret, Dietsche, Anne, Ralf, Volker, Harm und er, jamten Hey Joe oder I feel free , stellten sich das Leben nach der unmittelbar bevorstehenden Revolution vor, wollten Schafzüchter in Irland werden, Cannabispflanzer in Südfrankreich, einen alten Gulfhof kaufen und dort leben, wohngemeinschaften, landwirtschaften, improvisieren, rocken und freejazzen, Betten und Stühle eigenhändig bauen, aus Teekisten und Treibholz, alles ausprobieren, auch die Anarchie, freie Liebe sowieso. Oft brannten die Feuer bis spät in die Nacht und waren nur mit Mühe zu löschen.
    Harm probierte nicht nur aus, er fing eines Tages an, die Utopien, die sich aus dem Feuer, dem Rotwein, der Jugend und den Büchern der Zeit nährten, zu leben. Ein Jahr vor dem Abitur verließ er von heute auf morgen die Schule, ohne auch nur einem ein Wort gesagt zu haben. Er zog mit ein paar Kisten, seiner E-Gitarre und einer Matratze in das seit Jahren leer stehende Wohnhaus eines alten Bauernhofs, dessen Scheune längst eingestürzt war, und führte dort ein Leben, das er als eines in Freiheit bezeichnete.
    Obwohl die meisten aus der Clique seinen Schritt offiziell als Fehler einstuften, beneideten sie ihn insgeheim, auch er, der ihn oft besuchte, bei ihm übernachtete und ansehen musste, wie Harm zum Star der Szene aufstieg. Vor allem die Mädchen wollten seiner habhaft werden. Wer nicht mit ihm geschlafen hatte, wurde zur Jungfrau degradiert, der maßgebliche sexuelle Erfahrungen fehlten, die nicht mitreden konnte, die noch nie einen richtigen Orgasmus gehabt hatte. Zeitweise wohnten gleich drei Mädchen bei ihm, wenn auch nur tageweise, darunter oft Schwestern im Geiste, Herumziehende, Suchende, das Leben Ausprobierende, während sich der Rest der Clique mit Neidfantasien quälte. Harm ließ sich nichts entlocken, er schwieg über sein offensichtlich ausgefülltes Geschlechtsleben, grinste nur, sobald Karl oder Ralf eine ihrer Anspielungen wagten.
    Während für die anderen das Abitur näher rückte, befasste sich Harm mit der Praxis, wie er seinen Broterwerb nannte. Mit Werkzeugen aus der Werkstatt seines vor Jahren verstorbenen Vaters restaurierte er alte Möbel und baute Buddelschiffe, die er im Hafen an Touristen verkaufte. Abends folgte er mit seinem Trio – Bass, Schlagzeug, Gitarre – Jimi Hendrix, dem er dank seiner hageren Gestalt und seinem Lockenkopf zumindest figürlich glich. Traten die HarmOnics bei Meta in Norddeich , im Madhouse in Leer oder im Old Inn in Aurich auf, kochte der Saal. Harm Claasen war der ungekrönte König der ostfriesischen Musikszene, Mitte der
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