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Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
Autoren: Bianka Minte-König
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Blankensee im Dezember 1921
     
    Endlich wieder zurück auf Blankensee.
    Das Gut ist verkommen, das Haus geschlossen und das Personal entlassen. Die Pferde sind fort.
    Was ist geschehen? Ich will verstehen können, was geschehen ist. Wo sind sie alle?
    Nur ein alter Mann sitzt im Salon am Kamin. Er sagt sein Name sei Vanderborg, Jakob Vanderborg. Er weint um seine Tochter Estelle, meine Mutter. Seit Jahren, sagt er, weint er um sie, und er wird nicht aufhören, bevor er nicht eine Erklärung hat für ihr Verschwinden.
    Er glaubt, ich könne sie ihm geben. Aber dazu müsste ich die Erinnerung an sie zurückgewinnen. Die ganze Erinnerung, nicht nur jene Bruchstücke, die auf dem gerodeten Acker meines Gedächtnisses wie ein Scherbenhaufen antiker Gefäße herumliegen, deren kostbarer Inhalt unrettbar in der verdorrten Erde versickert und verloren ist. Ein fester Ort des Grauens, des schaudernden Gedenkens an ein vergessenes Ereignis.
    Ich fürchte mich davor, den Schrein der Erinnerung zu entsiegeln und herauszulassen, was er gnädig verbirgt.
    Ich habe Angst, dass es Vanderborg zerreißt, wie es mich zerrissen hat.
    Wem nützt die Kenntnis der Vergangenheit heute noch? Warum soll ich sie aus meinem Unterbewusstsein wieder ans Licht zerren?
    Lenz will meine Erinnerung mit seiner neuen psychoanalytischen Methode aus der Verdrängung hervorholen, damit sie wieder zu meiner Geschichte wird.
    Ein Mensch ohne Geschichte sei kein Mensch, sagt er. Aber was ist, wenn meine Geschichte grauenvoller wäre, als ich es ertragen könnte? Wenn sie nicht die Geschichte eines Menschen, sondern eines Monsters wäre? Wenn sie mich mir selbst bis zur Unkenntlichkeit entfremdete?
    Ich bin zurück auf Blankensee, nach drei Jahren endlich zurück, aber ich bin noch lange nicht angekommen.
    Conrad Lenz sitzt bei Vanderborg am Kamin und spricht mit ihm, während ich hier schreibe. Im Studierzimmer meiner Mutter Estelle. Er hat mir befohlen, alles zu notieren, was mir in den Kopf kommt. Genau so, ohne Reihenfolge, auch ohne Datum, das Unwichtige wie das Bedeutungsvolle, alles, was mir hilft, meine Erinnerung vollständig zurückzugewinnen. Stück für Stück. Es ist ein mühsamer Weg, aber ich will ihn gehen. Ich will mutig sein und die Augen nicht länger verschließen. Ich will sehen und verstehen, was mit mir geschehen ist, damit ich begreife, wer ich bin.
    Ich muss mich zu mir zurückschreiben, auf meiner Spur bleiben, aus der Todesstarre erwachen, endlich wieder leben.
    Erwecke ich dadurch das Monster, so wird Conrad Lenz mir helfen, seine Seele zu zähmen. Er versteht sich auf Seelen, seien sie auch noch so wild.
     
    Amanda

A
lles endete im Chaos, als Onkel Friedrich im Jahre 1918 von der Westfront zurückkam und meiner Mutter die Erkennungsmarke meines Vaters Amadeus von Treuburg-Sassen überbrachte. Sie war das Einzige, was von ihm auf dem Schlachtfeld der Ehre übrig geblieben war. Und so gewaltig mein Schmerz auch war, so war er nichts gegen das, was meine Mutter angesichts dieser Todesbotschaft empfand.
    Sie versteinerte innerlich und nichts und niemand drang mehr zu ihr durch, auch ich nicht.
    Onkel Friedrich ging zurück an die Front, wie ich annahm, um sich in die Schlacht zu werfen und seinem besten Freund in den Tod zu folgen, und der Großvater, Jakob Vanderborg, zog sich gramgebeugt nach Berlin in die Wohnung in der Brüderstraße zurück.
    An mich dachte keiner.
     
    Sie gaben mich in die Obhut von Tante Gertrud und Onkel Hansmann, die wegen der schlechten Versorgungslage von Berlin bei uns auf dem Gut wohnten und sich schon bald wie dessen Eigentümer aufführten. Dabei gehörte Blankensee meiner Mutter und mir. Aber Wilhelm, Karl und Hermann, die Söhne von Hansmann, waren genau wie ihr Vater und beanspruchten alles für sich und kommandierten mich herum. Aber ich ließ mir das nicht gefallen und Wilhelms Zudringlichkeit schon gar nicht. Was hatte sich Onkel Hansmann aufgeregt, als ich Wilhelm einmal an Ostern in den Hals gebissen hatte, weil er mir einen Kuss abpressen wollte. Ich hätte nichts gegen einen Kuss gehabt, denn in den romantischen Büchern meiner Mutter, die ich gerne las, da hatten Mädchen in meinem Alter oft Verehrer, von denen sie sich einen Kuss abschmeicheln ließen. Aber das waren stattliche Burschen, von Anstand undAdel, und nicht solche hergelaufenen Pickelgesichter wie Wilhelm, der sogar in der Gegenwart meines Mädchens Rieke stets rot anlief vor Verlegenheit. Gewiss wäre er mir auch nie zu nahe
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