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Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
Autoren: Bianka Minte-König
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wirklich erprobt. Aber ich verspreche mir davon sehr viel. Wenn du einverstanden bist, dann unterschreib mir hier deine Einwilligung …«
    Er stand auf, trat zu mir und reichte mir das Blatt Papier.
    Kaum hatte ich begonnen, es zu lesen, entzog er es mir wieder, drückte mir einen Stift in die Hand und sagte:
    »Bitte nur hier deinen Namen. Amanda genügt.«
    »Aber …«, stammelte ich, »… ich habe es noch nicht gelesen …«
    »Es steht nur darauf, was ich dir eben erklärt habe.«
    »Und es ist nicht gefährlich?«, fragte ich. »Mein Großvater hat mir erklärt, dass Strom für den Menschen sehr schädlich ist, an einem Stromschlag kann man sterben … Ich möchte nicht sterben … Meine Mutter wurde von einem Blitz getroffen und …«
    »Wir verwenden keinen Starkstrom … du musst dir vorstellen, dass es ganz winzig kleine Blitze sind, die dein Gehirn ein wenig kitzeln … es lacht darüber und macht dich wieder froh.«
    Er schob mir das Papier hin und deutete auf den Fleck, wo ich unterzeichnen sollte.
    »Du willst doch wieder froh sein? Du willst doch heraus aus der Dunkelheit, die dich so unglücklich macht, dass du wie ein Monster Menschen anfällst, sie bis auf das Blut beißt und fast ermordest?!«
    Ich seufzte, und als der Professor mir erklärte, dass er mich zunächst eine Weile beobachten werde, bevor er die neue Methode bei mir zum Einsatz bringen würde, hoffte ich, ihn von meiner geistigen Gesundheit recht bald überzeugen zu können. Dann wäre die Sache sowieso hinfällig.
    Also unterschrieb ich unberaten und naiv das Papier, welches der Irrenanstalt alle Macht über mich gab und ihr erlaubte, mit mir jene Experimente zu machen, die meine Erinnerung zerstörten und mich für Jahre in die schwarze Nacht des Vergessen stürzten.
    Ich war eine der ersten Patientinnen, denen man mit Elektroschocks den Wahnsinn auszutreiben versuchte.
     
    Während ich hier schreibe, habe ich das Gefühl, als hätte der Strom mein Gehirn verschmort und verkohlt. Nur so ließe sich vielleicht erklären, warum ich mir meiner Erinnerung nichtmehr sicher bin. Es ist, als ginge ich auf einem Weg, der plötzlich im Nebel endet, oder stünde an einer Klippe über einem gähnenden finsteren Abgrund, in dem das verborgen liegt, was ich so dringend zurück ans Licht meines Bewusstseins zerren möchte, um sicher zu sein, dass ich nicht verrückt bin. Dass es nur meine Geschichte ist, die wahnsinnig ist – nicht ich.
     
    Ein Pfleger brachte mich in einen düsteren, nur spärlich mit elektrischem Licht beleuchteten Saal, in dem mehrere Patienten an Tischen saßen und kleine Kisten bauten. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es Zigarrenkisten waren.
    »Arbeitstherapie«, sagte der Pfleger. »Der Professor ist bekannt dafür, dass er alle erdenklichen Methoden zum Wohle seiner Patienten ausprobiert. Setz dich dazu, sieh, wie die anderen es machen, und fang dann auch mit einer Kiste an.«
    Ich hockte mich zwar auf die Kante des rohen Holzstuhles, wollte aber keine Zigarrenkisten bauen.
    Wozu auch! Wenn mein Geist krank war, so würde ich doch dadurch nicht gesund werden! Ebenso wenig wie die anderen Patienten, die mit kleinen Hämmern winzige Nägel in dünnes Sperrholz trieben und alles andere als normal wirkten. Mir wurde übel bei ihrem Anblick, denn viele von ihnen trugen die Narben des Krieges in ihren zerfetzten Gesichtern. Verlorene Augen und Nasen, weggeschossene Kiefer, riesige Löcher in den Wangen, schiefe Münder, aus denen unaufhörlich der Speichel rann. Entsetzliche Fratzen! Wie konnte jemand mit solchen Verletzungen überleben? Und warum?
    Wo lag der Sinn? Sollten sie hier, weggesperrt, weil man ihren Anblick nicht ertragen konnte, bis an ihr Lebensendedahinvegetieren? Zigarrenkisten bauen für ein Vaterland, das sie als unangenehme Erinnerung an den Krieg aus seinem Blickfeld und seinem Bewusstsein verdrängt hatte?
    Was mussten sie empfunden haben, nachdem sie überlebt hatten und zum ersten Mal den Verband abnahmen und in einen Spiegel blickten?
    Hatten sie versucht sich zu töten und waren an ihrem Selbstmord gehindert worden? Gerettet von Menschen, die unversehrt waren und im nackten Leben, dem verstümmelten Überleben, noch ein schützenswertes Gut sahen, obwohl der Kaiser es doch so bedenkenlos hunderttausendfach geopfert hatte? Wofür denn bloß?
     
    Ich hatte Onkel Friedrich, nachdem er uns die schreckliche Botschaft gebracht hatte, gefragt, ob der Tod meines Vaters denn irgendeinen Sinn gemacht
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