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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Autoren: Rachel Simon
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Ort gekommen war, hatte sie ganz aufgehört zu sprechen … Doch das war Onkel Luke nie aufgefallen. Für ihn war sie eine Patientin von dreitausend, und er tänzelte, wie Doreen sagte, in Begleitung von gutgekleideten Leuten, »die an keinem Wasserhahn vorbeigehen können, wenn er gut genug poliert ist, um ihr Gesicht zu spiegeln«, übers Gelände und zeigte ihnen alles.
    Onkel Luke nahm sie selbst jetzt, als sie an seinem Fenster vorbeiging, nicht wahr – er konzentrierte sich darauf, Notizen auf der Karte festzuhalten. Sie streckte ihm heimlich die Zunge heraus, dann legte Clarence seine Hand auf ihre Schulter. »Steig ein«, forderte er in höflichem Ton, weil Onkel Luke ihn hören konnte. Dann stieß er sie auf den Rücksitz und schlug die Tür zu.
    Sie versuchte, durch die Windschutzscheibe zum Farmhaus zu schauen. Das Licht der Scheinwerfer reichte gerade so weit, sie konnte jedoch nur das Rechteck der erleuchteten Tür und die Silhouette der Lady ausmachen, die gesagt hatte, sie würde tun, worum Lynnie sie gebeten hatte. Lynnie hatte sich mächtig angestrengt, um diese Worte auszusprechen – »verstecken, sie« –, und ihr wurde leichter ums Herz, als sie die Antwort der alten Lady vernahm. Das winzige Dachbodenfenster oder gar der Waldrand waren nicht zu sehen.
    Clarence rutschte durch die andere Wagentür neben sie, und Lynnie drückte sich ans Fenster. Sie musste raus hier, Buddy finden. Aber das ging nicht, und sie konnte nichts anderes tun, als tief Luft zu holen. Das war nicht gut – wenn sie merkten, dass man Angst hatte, wurden sie noch brutaler. Sie versuchte, an Kate zu denken, an die freundliche Pflegerin mit den roten Haaren und der warmherzigen Art, allerdings sah sie nur den Wärter mit den Hunden, den sie Smokes nannten, vor sich, und ihr Atem beschleunigte sich noch mehr. Sie nahm zu einer alten Gewohnheit Zuflucht. Als sie noch klein war und sich ihr Körper schlaff fühlte, ließ sie gern den Kopf kreisen, weil dann die Farben der Umgebung flatterten wie bunte Bänder. Nachdem der Arzt festgestellt hatte, dass sich ihre Muskulatur kräftigte, rollte sie immer noch den Kopf, allerdings mit geschlossenen Augen, weil sie dahintergekommen war, dass ihre Gedanken an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit verharrten, wenn sie mit der Bewegung aufhörte. Es war wie bei einer Waschmaschine: Nach dem Schleudern fand man verlorene Socken. Während die Limousine die Auffahrt hinunterrollte, ließ sie wieder den Kopf kreisen, bis sie ganz woanders war.
    »In dieser Bruchbude gehört einem gar nichts«, hatte Lynnies erste Freundin Tonette bei Lynnies Aufnahme inder Krankenstation geflüstert, »nur das, was hier drin ist. Also behalt es dort.« Dabei deutete sie auf Lynnies Stirn. Tonette war groß, braun und dünn und hatte Haare, die an die Federn eines Kugelschreibers erinnerten. Sie reichte Lynnie ein Schälchen mit Pudding. »Ich sage dir das, damit du dich von Anfang an richtig verhältst.« Lynnie nahm den Pudding, konnte Tonettes Logik jedoch nicht folgen. Erst ein wenig später, nachdem das mit Tonette passiert war, beschloss sie, von nun an zu schweigen.
    Clarence tastete Lynnie ab. »Sieht aus, als hätte sie bei ihrem Abenteuer Gewicht verloren.« Onkel Luke und Edgar beachteten ihn gar nicht. »Ich sag das nur«, fügte Clarence lauter hinzu, »damit Sie es auf dieser Karte vermerken.« Lynnie verstand die Handlungsweise der anderen nicht immer, ganz zu schweigen von ihren Motiven, aber sie begriff, dass Clarence keineswegs die Absicht hatte, ihr zu helfen. Er wollte nur, dass sie ihn vor seinem Kollegen, dem Wärter namens Smokes, lobten.
    Am liebsten hätte Lynnie die Beine angezogen und ihn von sich getreten, beherrschte sich aber, weil sie wusste, dass man ihr in diesem Fall die Füße fesseln würde. Stattdessen schaute sie aus dem Fenster. Wenn sich Buddy dort zwischen den Bäumen verstecken würde, müsste sie sich nicht gegen Clarence wehren; Buddy würde zum Auto rennen, die Tür aufreißen und sie retten. Die Limousine erreichte die Abzweigung zur Landstraße, und plötzlich entdeckte Lynnie etwas in der Dunkelheit: den kleinen Leuchtturmmann, der ihr schon bei ihrer verzweifelten Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht aufgefallen war. Sie hatte Buddys Arm berührt. Die Figur erinnerte sie an den Ort, an dem sie vor langer Zeit mit ihrer Schwester gewohnt hatte – hier mussten sie sicher sein. Sie hatte so etwas einmal für Buddy gezeichnet: einen großen, massiven
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