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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Autoren: Rachel Simon
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das nicht, deshalb erklärte er: »Das ist nötig. Sie lernen nicht dazu – sie verstehen nichts. Dies ist die einzige Möglichkeit, sie auf Linie zu bringen.«
    »Aber das muss doch wehtun.«
    »Sie spüren keinen Schmerz. Sie sind … hören Sie, wenn sie richtig und falsch unterscheiden könnte, hätte sie Ihnen nicht diese Kleider gestohlen.«
    »Ich habe sie ihr gegeben .«
    »Eine freundliche Geste, aber diese Großzügigkeit war unnötig«, sagte Dr. Collins.
    »Ich würde mich freuen, wenn die Frau sie behalten dürfte.«
    »Und«, schaltete sich der Wärter wieder ein, während er sich vor der jungen Frau aufbaute, »was hat sie zu Ihnen gesagt, als Sie ihr das Kleid geschenkt haben?«
    Die junge Frau senkte den Kopf.
    Martha wusste, dass der Wortschatz des Mädchens nur aus einem Wort bestand. Sie presste die Lippen zusammen, wie sie es oft bei Earl getan hatte.
    »Er ist nicht hier oben«, rief ein Polizist, dann polterten sie die Treppe herunter.
    Martha schaute zur Decke. Der Dachboden! , schoss es ihr durch den Kopf. Sie haben den Dachboden übersehen. Und sie haben mit keinem Wort erwähnt, dass sie auch ein Baby suchen.
    »Vielleicht sollten sie die Umgegend durchkämmen«, schlug Dr. Collins den Polizisten vor. »Schließlich ist er zu Fuß hergekommen. Er hat keine Angst vor der freien Natur. Suchen Sie in den Nebengebäuden.«
    Sie liefen hinaus. Der Doktor stellte sich in die Haustür und sah ihnen zu.
    Martha schaute sich nach der gefesselten jungen Mutter um. Die stand zusammen mit dem Wärter im Esszimmer. Martha wollte etwas unternehmen … irgendetwas. Aber was? Hundert Gedanken bestürmten sie und zerstreuten sich wieder, bis nur noch einer blieb. Sie fragte die junge Frau: »Wie ist Ihr Name?«
    Die junge Mutter begegnete ihrem Blick, blinzelte und ließ den Kopf wieder hängen.
    »Sie ist schwachsinnig«, mischte sich der Wärter ein. »Minderbemittelt. Sie kennt nur ein Wort: Nein. Weiter arbeitet ihr kleines Gehirn nicht.«
    »Das genügt, Clarence«, wies ihn Dr. Collins zurecht.
    »Ich sage nur die Wahrheit«, verteidigte sich Clarence. »Die Lady hat eine Frage gestellt – sie sollte Bescheid wissen.«
    Martha ging auf die junge Mutter zu. »Wie heißen Sie?«
    Die junge Frau wich leicht zurück, sah jedoch nicht auf.
    »Doc, kann ich sie jetzt zum Wagen bringen?«
    »Sie heißt Lynnie«, sagte der Doktor, rührte sich aber immer noch nicht vom Fleck.
    »Lynnie«, wiederholte Martha, und die junge Frau hob den Kopf, als sie ihren Namen hörte. Ja, ihr Blick wirkte abgestumpft – das hatte Martha auch bei anderen zurückgebliebenen Kindern beobachtet. Warum war ihr das vorher nicht aufgefallen? Weil Lynnie so schön war und mit ihren Augen so viel Gefühl ausdrückte.
    »Und der Mann?«, bohrte Martha weiter. »Wie heißt er?«
    Clarence stieß ein Lachen aus. »Er hat keinen Namen. Er ist Nummer Zweiundvierzig.«
    Martha sah den Doktor fragend an, doch statt eine Erklärung abzugeben, trat er auf die Veranda und unterhielt sich mit einem der Polizisten, der zur Einfahrt deutete.
    Als sich Martha wieder zu Lynnie umwandte, entdeckte sie etwas Neues in den Augen des Mädchens. Ein Gefühl, das sie nicht identifizieren konnte.
    Vielleicht merkte Clarence etwas und nahm deshalb den Gesprächsfaden wieder auf. »Sie hat Sie gehört«, erklärte er höhnisch und stellte sich an Lynnies Seite. »Sie besitzt nur nicht genügend Verstand für gute Manieren. Wenn dir jemand Kleider schenkt, was sagst du dann?« Er stieß Lynnie in Marthas Richtung.
    Lynnie schaute an Martha vorbei. Zuerst hielt Martha das für ein Zeichen von Schüchternheit oder Unterwürfigkeit. Doch irgendetwas verriet ihr, dass diese kleine Geste mehr aussagte, als es Worte vermocht hätten. Sie folgte Lynnies Blick. Ihre Augen waren auf das kleine Fenster im Wohnzimmer gerichtet, durch das Martha das aufziehende Unwetter beobachtet hatte.
    Das Fenster stand offen. Eine Männergestalt – Nummer Zweiundvierzig – rannte über die Weide und verschwand im Wald.
    Martha schaute Lynnie an. Diesmal war klar, was sie bewegte: Trotz.
    »Du hörst mir nicht zu«, tadelte Clarence die junge Frau und schob sie vor Martha. »Bedank dich bei der Lady. Gib dein höflichstes Grunzen von dir.«
    Das Mädchen war ihr nun so nahe, dass Martha ihren Atem spürte. Lynnie brachte ihre Lippen dicht an ihr Ohr.
    Martha wappnete sich gegen das eine Wort, das Lynnie kannte – das Wort, das sie schon aus ihrem Munde gehört hatte und dem Trotz
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