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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Autoren: Rachel Simon
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Baby wimmerte – das waren die Laute, die die Witwe irrtümlich der Frau zugeordnet hatte.
    Die Berührungen des Mannes waren sanft. Er hatte den Wasserkrug vom Esstisch geholt und tauchte das Tuch darin ein. Dann schlug er die Decke zurück und säuberte den strampelnden Körper. Ein Mädchen, stellte die Witwe fest. Sie sah, dass das Kind weißhäutig war. Der Mann handelte mit der Umsicht eines Vaters, aber er warnicht der Vater. Irgendwie hatte er sich mit der Frau zusammengetan, und vielleicht hatte er ihr sogar bei der Entbindung geholfen.
    »Oh mein Gott«, stöhnte die Witwe.
    Die junge Mutter schaute auf. »Nein!«, schrie sie. »Nein, nein, nein, nein!«
    Der Mann drehte ihr das Gesicht zu und folgte ihrem Blick zur Witwe. Er starrte sie an, aber in seinen Augen war keine Angst zu sehen – nur wieder dieses Flehen.
    »Es ist gut«, sagte die Witwe, obschon sie wusste, dass nichts gut war. Da war das Baby. Ein Paar auf der Flucht. Und sie waren anders . Nicht normal.
    Sie sollte die Polizei anrufen, aus dem Haus laufen und sich in Sicherheit bringen. Doch ihre Gedanken rasten an diesem Punkt vorbei, weit voraus, dann nahmen sie eine Wende und kehrten in der Zeit zurück.
    Sie hob die nassen Decken auf und lief durch die Haustür auf die Veranda.
    Während sie dastand und mit den Decken auf den Armen in den Regen schaute, dachte sie an ihn, ihr einziges Kind, an den Sohn, der nicht alt genug geworden war, um einen Namen zu bekommen. Sie sah, wie der Arzt in ihr Krankenhauszimmer kam, und ihren Mann Earl, der auf einem Stuhl neben dem Bett saß. Earl erhob sich, als sich der Arzt näherte und tief Luft holte. »Gott weiß, was das Beste für solche Kinder ist«, sagte der Doktor. »Er nimmt die Unvollkommenen zu sich.« Sie fragte: »Was heißt das: unvollkommen?« Der Arzt erwiderte: »Der Kleine lebt nicht mehr. Sie können vergessen, dass dies jemals geschehen ist.« Das Gesicht ihres Mannes fiel ein, während er taumelnd auf den Stuhl zurücksank. Als an diesem Abend der Mond aufging, stiegen sie voller Schweigen in das Auto. Earl bestand darauf, keinen Namen in den Grabstein zu meißeln.
    Aber das Baby in ihrem Haus lebte.
    Die Witwe hängte die Decken zum Trocknen über das Geländer und kehrte ins Haus zurück.
    Weder im Wohnzimmer noch in der Küche war jemand. Sie rief: »Wo sind Sie?« Die beiden mussten sich noch im Haus aufhalten, sie hatte die Hintertür nicht gehört. Sie ging in den Keller und suchte in der Waschküche, im Vorratsraum, bei der Wasserpumpe. Wieder im Erdgeschoss, öffnete sie den Schrank unter der Treppe. Dann stieg sie hinauf in den ersten Stock. Die Tür zum Bad stand offen wie immer, die Handtücher waren unberührt. Die Witwe drehte den Knauf der Schlafzimmertür. Das Bett und die beiden Schränke – ihrer zur Linken, Earls auf der rechten Seite – sahen unberührt aus. Im zweiten Raum, ihrem Arbeitszimmer mit ihren Büchern, einem Schreibtisch und dem Christbaumschmuck war auch alles wie sonst.
    Nein, nicht ganz.
    Sie knipste die Lampe an. Ihre Schreibtischunterlage – eine Landkarte von Amerika, die früher in ihrem Klassenzimmer gehangen hatte – war verrutscht.
    Sie richtete den Blick an die Decke. Sie mussten die Falltür zum Dachboden gefunden haben, wo sie Unterlagen über ehemalige Schüler und die Wäsche, die geflickt werden musste, aufbewahrte. Offenbar war das Pärchen da hinaufgeklettert und hatte die Falltür zugezogen.
    Diese Menschen waren daran gewöhnt, sich zu verstecken.
    Sie stieg auf den Schreibtischstuhl. Seit Jahren spürte sie ihre Arthritis, und sie brauchte länger denn je für die Farmarbeit, obwohl sie nur noch wenige Tiere und einen sehr viel kleineren Garten als früher hatte. Sie zog an der Schnur, um die Faltleiter herunterzulassen, hielt sich an den oberen Sprossen fest und kletterte hinauf.
    Es brauchte einige Zeit, bis sich ihre Augen an das trübeLicht auf dem winzigen Dachboden gewöhnt hatten. Aber dann sah sie die beiden, wie sie sich über den Korb mit der Flickwäsche beugten, und in dem Korb lag der Säugling.
    Sie beobachtete, wie die beiden besorgt in den Korb spähten, die junge Frau lehnte sich offensichtlich erschöpft an den Mann – sie hatte den Arm um seine Taille geschlungen, er hatte den seinen um ihre Schultern gelegt. Die Witwe war wie gebannt von dem Pärchen – ein Farbiger, eine Weiße –, das von gemeinsamen Hoffnungen und zärtlichen Gefühlen für das Kind war. Die Hautfarbe schien für die zwei keinerlei
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