Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Autoren: Rachel Simon
Vom Netzwerk:
Well’s Bottom vertraut. Sie sollte die Tür zuschlagen und die Polizei anrufen. Das Gewehr ihres Mannes befand sich im oberen Stockwerk; war sie flink genug, um in ihr Schlafzimmer hinaufzurennen? Doch der erschrockene Ausdruck des Mannes wechselte zu Verzweiflung, und ihr wurde klar, dass die beiden vor etwas davonliefen. Die Witwe atmete schwer. Sie wünschte, sie wäre nicht allein. Aber die zwei waren auch allein, durchgefroren und verängstigt.
    »Wer sind Sie?«, wollte die Witwe wissen.
    Die junge Frau hob langsam den Blick. Der Witwe entging das nicht, doch kaum sah sie zum Gesicht der Frau auf – die Witwe war mit eins fünfundfünfzig wesentlich kleiner als die Fremde und erst recht als der Farbige –, senkte die rasch den Kopf.
    Anders als die Frau hatte der Mann die Stimme der Witwe gar nicht zur Kenntnis genommen, doch ihm entging nicht, dass seine Begleiterin reagierte und einen Schritt zurückwich. Er rieb ihr sanft die Schulter. Selbst in dem trüben Schein, den die Leselampe auf die Veranda warf, erkannte die Witwe die Zärtlichkeit und Zuneigung in dieser Geste.
    Der Mann richtete den Blick wieder auf das Gesicht der Witwe. Ein Flehen schimmerte in seinen Augen, und er hob die freie Hand. Die Witwe zuckte zurück, weil sie dachte, er würde zum Schlag ausholen. Stattdessen spreizte er die Finger und bewegte sie ruckartig in Richtung Haustür. Seine Hand sah aus wie ein fliegender Vogel in einem Daumenkino.
    In diesem Moment begriff die Witwe, dass der Mann nicht hören konnte.
    »Oh«, hauchte sie enttäuscht über ihre Begriffsstutzigkeit. »Bitte, kommen Sie herein.«
    Sie machte einen Schritt zur Seite. Der Mann bewegte sein Hand vor der Frau; sie nickte und ergriff seine Hand, ehe sie über die Schwelle traten.
    »Sie müssen ja … bitte«, murmelte die Witwe; erst als sie die Tür schloss, war sie imstande, einen sinnvollen Kommentar mit ihrer dünnen Lehrerinnenstimme zu äußern: »Sehen wir zu, dass Sie die nassen Sachen loswerden.« Im nächsten Augenblick kam sie sich dumm vor. Der Mann war taub, die Frau starrte auf die Lampe, und beide hatten ihr den Rücken zugekehrt. Gemeinsam tapsten sie durchs Wohnzimmer; von ihren improvisiertenRegencapes tropfte Wasser, aber die Witwe brachte es nicht übers Herz, sie darauf aufmerksam zu machen. Die beiden schienen erleichtert zu sein, Schutz gefunden zu haben, und nur die Nähe zwischen ihnen zu spüren.
    Die Beine des Mannes unter dem Plakatumhang waren muskulös – man sah, dass er an körperliche Arbeit gewöhnt war. Der Witwe war jedoch schleierhaft, wieso er im kalten November nackte Beine hatte. Von der jungen Frau unter den Decken war nicht viel zu sehen – nur die Schuhe, die ihr viel zu groß zu sein schienen. Ihr Gang wirkte unbeholfen. Blonde Locken lugten unter der Kapuze hervor, und die Witwe dachte: Sie ist wie ein Kind.
    Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt; die Witwe zog das Gitter beiseite und legte ein Holzscheit nach. Hinter ihr hörte sie das Mädchen stöhnen. Sie drehte sich um. Das Mädchen betrachtete neugierig die Flammen. Der Mann zog sie fester an sich. Am Kamin standen nur zwei Stühle – der Lesesessel der Witwe mit dem Musselinschutz über den abgewetzten Armlehnen, und auf dem Holzstuhl hatte ihr Mann immer gesessen und seine Sportzeitschriften und Western gelesen. Das Sofa war ein wenig zurückgesetzt. Das sollte ich ihnen anbieten , dachte die Witwe, doch ehe sie zur Tat schreiten konnte, hatten sich ihre beiden Besucher bereits auf den Stühlen niedergelassen.
    Die Hausherrin trat zurück und nahm die beiden genauer in Augenschein. Ihr Mann war vor seinem Tod auf einem Ohr taub geworden, ansonsten kannte sie niemanden, der nicht hören konnte. Und jemand wie diese junge Frau war ihr noch nie begegnet. Eigentlich müsste ich Angst haben , dachte sie, doch dann fiel ihr ein Vers aus dem Matthäusevangelium ein, den sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte: »Als ich fremd war, nahm er mich auf.«
    Sie ging zur Küche, warf jedoch aus dem Esszimmernoch einen Blick zurück. Die beiden steckten immer noch die Köpfe zusammen. Der Mann gestikulierte. Die Frau stöhnte wieder – es klang wie eine Zustimmung.
    Lass ihnen ein wenig Privatsphäre, sagte sich die Witwe. Jedermann braucht seinen eigenen Raum. Die wenigsten Kinder konnten 29 + 13 ausrechnen, wenn man ihnen über die Schulter schaute. Andererseits gab es auch zuviel Abgeschiedenheit. Abgesehen von ihren monatlichen Ausflügen zum Markt, war sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher