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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Autoren: Rachel Simon
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Ausdruck verleihen würde.
    »Verstecken«, flüsterte Lynnie.
    Martha wich zurück und musterte Lynnie. Man sah ihr nichts an.
    Die Witwe beugte sich noch einmal vor.
    »Verstecken«, hauchte Lynnie erneut und fügte hinzu: »Sie.«
    »Was hat sie gesagt?«, erkundigte sich Clarence. »War sie ein braves Mädchen?«
    Lynnie gab nichts preis und drehte Martha das Gesicht zu.
    Die Augen waren keineswegs abgestumpft. Sie waren grün und schön und, ja, anders . Offensichtlich waren sie geübt darin, Tränen zurückzuhalten.
    Dr. Collins verkündete: »Wir gehen.«
    »Haben sie ihn geschnappt?«, fragte Clarence.
    »Noch nicht, aber heute Nacht kommt er nicht weit. Es ist zu dunkel. Der Fluss ist über die Ufer getreten, und der Junge muss erschöpft sein. Sie nehmen morgen seine Spur auf.«
    »Das wird Nummer Zweiundvierzigs Glückstag«, bemerkte Clarence.
    Er zerrte Lynnie mit sich. Martha spürte plötzlich Kälte an ihrem Hals – dort, wo kurz vorher der Atem der jungen Frau sie gewärmt hatte. Die Witwe blieb reglos stehen, ohne Lynnie aus den Augen zu lassen, als Clarence seinen Schützling zur Tür schleifte. Eine Sekunde fragte sich Martha, ob sie die zwei Worte wirklich gehört hatte. Schließlich nahm sie sich zusammen und lief ihnen nach. Die Tür stand weit offen, und sie spähte hinaus. Dr. Collins schritt zu der Limousine. Die Polizeiautos wendeten. Lynnie wurde im noch immer strömenden Regen und ohne Schirm die Verandatreppe hinuntergeführt.
    Martha spähte zu der Stiege ins Obergeschoss, dann drehte sie sich um und rief: »Lynnie!« Die zarte Gestalt in der Zwangsjacke und dem bereits durchweichten weißen Kleid blieb am Fuß der Verandastufen stehen und warf einen Blick zurück.
    Ich muss mir alles genau einprägen , nahm sich Martha vor. Die grünen Augen. Das lockige goldblonde Haar. Die Art, wie sie den Kopf zur Seite neigte.
    Dann trat Martha auf die Veranda und erklärte mit mehr Sicherheit, als sie jemals empfunden hatte: »Lynnie, ich tu’s.«
State School
1968
    Lynnie watete durch das knöcheltiefe Wasser über die Einfahrt vor dem Farmhaus, dicht gefolgt von Clarence. Ihr Körper schmerzte noch immer nach der Geburt. Dieses Wasser fühlte sich reiner an als das auf einer verstopften Toilette, wo eklige Flüssigkeiten auf dem Boden herumschwammen. Nach so vielen Jahren mit derartigen Scheußlichkeiten hatte sie endlich etwas, aus dem sie Kraft schöpfen konnte: ein Wesen, dem sie das Leben geschenkt hatte. Dann gab ihr Clarence einen Stoß, und alles kam wieder zurück. Man hatte ihr alles genommen. Nach drei Tagen Freiheit hatte sie nichts mehr, nicht einmal die Wahl, wohin sie ihren Fuß setzen konnte.
    Ihre Arme waren gefesselt, Clarence passte auf sie auf, und bald erwartete sie eine Strafe in der Schule. Die Schule. So hatten sie es vor der alten Lady genannt. Die Insassen, die reden konnten, sprachen meistens von »der Bruchbude« oder »dem Knast«. In der langen Zeit, in der Wortfetzen durch ihren Kopf drifteten, manchmal Form annahmen, manchmal nicht, dachte Lynnie an diese Schule nur als schlechten Ort. Doch als sie Buddys Schild für die Schule sah – Buddy , im Stillen sprach sie den Namen, den sie für ihn ausgesucht hatte, voller Freude aus –, hielt sie es für perfekt: ein Käfig mit einem eingesperrten Tier. Jetzt wurde sie zu diesem Käfig zurückgeführt; ihr warelend zumute, und sie hätte am liebsten jemanden gebissen. Aber das tat sie nicht – es würde alles nur noch schlimmer machen.
    Die Hintertür der Limousine stand bereits offen. Am Steuer saß Mr. Edgar, der massige Mann, der für Dr. Collins arbeitete. Gewöhnlich sah Lynnie ihn nur vom Fenster der Wäscherei aus, wenn sie die Wäsche in die Rollbehälter legte. Er ging oft in das Verwaltungsgebäude; Lynnies Freundin Doreen, die die Post verteilte, sagte, dort würden »lauter große Worte gewechselt«. Jetzt als sie sich der Limousine näherte, konnte sie Mr. Edgars Haare sehen. Zurückgekämmt mit so viel Brillantine, dass man die Furchen des Kammes sehen konnte. Neben ihm saß Dr. Collins. Er beugte sich mit einen Füllfederhalter in einer und einer Zigarette in der anderen Hand über Lynnies Karteikarte. Lynnie registrierte das alles, obschon sie die Worte »Brillantine«, »Füllfederhalter« oder »Karteikarte« nicht kannte. Sie kannte jedoch den Namen »Dr. Collins«, auch wenn die Insassen ihn »Onkel Luke« nennen sollten. Lynnie sagte gar nichts zu ihm – kurz nachdem sie an diesen schlechten
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