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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Autoren: Rachel Simon
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immer hatte sie den süßen Geruch des Kaugummis von ihrer Schwester in der Nase. Sie erinnerte sich sogar, wie sie die Wange an Mommys parfümierte Brust geschmiegt hatte, während die sie unter dem Tisch hervorholte und sagte: »Ich kann das nicht.«
    Obschon viele Jahre seither vergangen waren – Jahre in Schlafsälen mit vierzig Eisenbetten –, hatte Lynnie noch ihr Kinderzimmer vor Augen. Sowohl das Bett ihrer Schwester als auch ihr eigenes hatten rosafarbene Kopfteile. Und es hatte Fenster mit Vorhängen. Nah-nah war das erste Wort, das Lynnie sagen konnte (»Endlich!« Ihre Mutter klatschte vor Freude in die Hände, als Hannah sie strahlend ins Kinderzimmer rief.) Lynnie erinnerte sich auch an das Badezimmer und daran, wie sie auf der Wickelkommode saß. Daddy sagte: »Schon fünf Jahre alt, und sie braucht immer noch Windeln und gibt Laute von sich wie ein Baby.«
    »Bitte, sprich nicht dauernd davon«, sagte Mommy.
    Lynnie konnte sogar das Wohnzimmer vor ihrem geistigen Auge entstehen lassen: den Teppich, das Aquarium, die Bücher. Die Bücher waren nicht so lustig wie die Fische. Nah-nah saß auf dem Sofa und las, während sich Lynnie mit den Armen über den Boden zum Aquarium zog, um den schimmernden bunten Fischen hinter der Glasscheibe zuzusehen. »Sie krabbelt immer noch nicht?«, fragte Tante Sowieso. »Sie ist schon sechs Jahre alt.« Die andere Tante meinte: »Es ist offensichtlich, dass Dr. Feschbach recht hat.« Mommy entgegnete: »Sie wird kriechen und auch laufen.«
    »Aber eine Schule kann sie nie besuchen«, wandte Tante Sowieso ein, und die andere flüsterte: »Denk nur, wie sehr sich ihre Schwester ihretwegen schämen wird, sobald sie alt genug ist, um alles zu verstehen.«
    Mommy weinte. Wenn andere weinten, geschah etwas mit Lynnie. Es war, als würde ein mächtiges Gewitter mit Sturm und Donner in ihrer Brust toben, bis sie es nicht mehr aushielt. Dann warf sie sich auf den Rücken, strampelte und schrie. Das funktionierte immer, denn das Weinen hörte auf. Manchmal kam dann Nah-nah zu ihr und meinte: »Sie versteht das nicht.« Doch Lynnie verstand. Sie konnte die Tränen vertreiben, wenn sie die Traurigkeit in die Luft trat.
    Und Lynnie sah ein Restaurant vor sich. Zu der Zeit konnte sie schon laufen, sie betraten das Restaurant, setzten sich in eine Nische, und ihre Eltern fragten sie, was sie wollte. »Burger!«, quietschte sie. Das war zu dieser Zeit eines der größten Worte, das sie kannte. Die Leute starrten sie an. Sie starrten auch, wenn das Essen nicht ganz in ihrem Mund landete und ihr wie Fingerfarbe übers Gesicht lief. Die Bedienung kam mit zusätzlichen Servietten an ihren Tisch. Daddy sagte: »Ich wünschte, du würdest endlich zur Vernunft kommen.« Mommy kamen die Tränen, und Nah-nah schlug vor: »Lasst uns zum Auto gehenund uns an den Händen halten.« Sie setzten sich auf den Rücksitz und sangen Elvis.
    Dann war da noch ein Haus, das sie Synagoge nannten, ein Haus mit bunten Fenstern und einem riesigen Raum, den sie durchquerten, um zum Schreibtisch des Rabbi zu gelangen. Mommy setzte sich, nahm Lynnie auf den Schoß und drückte sie an ihren harten Bauch. »Alle haben sich eine Meinung gebildet. Sie kennen den Standpunkt meines Mannes. Aber ich informiere mich durch Bücher. Dale Evans erklärt, der einzig richtige Platz für ihre zurückgebliebene Tochter sei die Familie. Sie sagt, ihr Mädchen sei ein Engel. Aber Lynnie – nun ja, es ist peinlich.« Sie schluckte schwer. »Pearl S. Buck hatte auch eine geistig behinderte Tochter, und sie schreibt, solche Kinder seien glücklicher, wenn sie unter ihresgleichen leben. Aber Lynnie ist mein kleines Baby!«
    Der Rabbi faltete die Hände und erwiderte: »Ich denke, Sie werden es bereuen, wenn Sie die Kleine fortschicken. Sie werden sich fühlen, als hätten Sie sie in der Wildnis ausgesetzt.«
    »Vielen, vielen Dank.« Mommy fing an zu schluchzen. Lynnies Brust schmerzte so sehr, dass sie sich auf den Boden warf und sich heulend aufbäumte. Schließlich entschuldigte sich Mommy und zerrte sie mit sich.
    Und da war noch ein Spielplatz. Nah-nah lief los, um mit ihren Freundinnen seilzuhüpfen, Lynnie blieb im Sandkasten und zeichnete mit einem Stock ineinander verlaufende Kreise in die Oberfläche, bis ein Junge kam und das hübsche Muster zusammentrampelte. Sie stürzte sich auf ihn und schlug zu. Im nächsten Moment kam Mommy mit dem Kinderwagen für die Zwillinge angelaufen, sprang in den Sandkasten, trennte Lynnie
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