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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Autoren: Rachel Simon
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und den Jungen und schimpfte Nah-nah auf dem Heimweg aus, weil sie nicht auf ihre Schwester aufgepasst hatte.»Gib’s zu«, sagte Daddy an diesem Abend, als Lynnie mit Nah-nah, die ihr Lieblingslied summte, auf der Treppe saß. Dieses Mal ergriff Nah-nah den Arm ihrer Schwester und drückte ihre Lippen auf Lynnies Handgelenk. Aber Lynnie konnte ihren Daddy trotzdem verstehen. »Sie ist fast acht. Wenn wir sie nicht bald irgendwo unterbringen, wird es jeden Tag so sein. Für den Rest unseres Lebens.«
    Tage später fuhren sie lange mit dem Auto. Lynnie saß auf dem Rücksitz und klappte den Aschenbecher auf und zu, auf und zu, bis Nah-nah fragte: »Ist das Lynnies Schule?«
    Lynnie schaute auf und entdeckte den Turm. Er erhob sich über die Mauer – höher als der Tempel. Lynnie war stolz. Sie würde in eine richtig große Schule gehen. Das Auto bog in eine Zufahrt ein und hielt vor einem Tor.
    »Es sieht aus, als ob hier nur noch ein Burggraben fehlt«, hauchte Nah-nah.
    Daddy wies sie zurecht: »Denk dran, was wir gestern Abend besprochen haben.«
    Mommy setzte hinzu: »Benimm dich deinem Alter entsprechend, Hannah.«
    Nah-nah drehte sich ihrer Schwester zu. Lynnie hatte diesen Gesichtsausdruck noch nie an ihr gesehen. Viel später, nachdem Lynnie im Geiste die Worte und deren Bedeutung geordnet hatte, rief sie sich diesen Augenblick ins Gedächtnis. Inzwischen hatte sie gelernt, die Mienen anderer zu erkennen: Mitleid, Angst, Belustigung oder Verachtung. Bis dahin hatte sie nur Ausgelassenheit und Zuneigung im Gesicht ihrer Schwester gesehen. Doch in diesem Moment blitzten Schuldgefühle in deren Augen auf.
    Ein Wachmann öffnete das Tor, und sie fuhren den Hügel hinauf zu einer Ansammlung von Gebäuden. DieEltern zeigten mit den Fingern und beschrieben, was sie aus der Broschüre und Onkel Lukes Briefen kannten: Dies waren die Cottages, in denen die Insassen untergebracht waren – eingeteilt nach verschiedenen Kategorien.
    »Sie nennen sie Cottages?«, fragte Nah-nah nach. »Jedes einzelne ist größer als meine Schule.«
    »Dies ist eine eindrucksvolle Einrichtung«, stellte Daddy fest. »Das Gelände umfasst zwölfhundert Acres.«
    In der Mitte standen sogar noch größere Gebäude.
    »Das müssen die Wäscherei, die Turnhalle, die Klassenzimmer und die Krankenstation sein. Sie sind hier ziemlich unabhängig«, fügte er mit einem Blick auf Hannah über den Rückspiegel hinzu. »Sie produzieren sogar ihre eigenen Nahrungsmittel.«
    Lynnie schaute sich um. Zwischen den Häusern waren Getreidefelder, Weiden mit Kühen, Hühnerställe, und überall sah man Männer in Overalls und grauen T-Shirts. Daddy meinte, sie würden als »Working Boys« bezeichnet, und erklärte, dass sich hinter den Feldern sogar ein Elektrizitätswerk befand. In der Nähe war ein Baseballfeld, und dahinter standen die Hütten für die Angestellten, deren Bezahlung Kost und Logis beinhaltete. Auf einem Hügel war etwas, worüber Daddy offenbar nichts wusste, weil er sie nicht darauf aufmerksam machte. Später, an dem Tag, an dem sie beschloss, nicht mehr zu sprechen, erfuhr Lynnie von dem Friedhof.
    Alles war mit Fußwegen verbunden, unter denen sich, wie Mommy erklärte, unterirdische Gänge befanden, »damit ihr im Winter nicht frieren müsst«. Abgesehen von zwei Männern in weißen Kitteln – einer mit drei knurrenden Hunden – war niemand zu sehen.
    »Ich glaube, sie beschäftigen die Schüler den ganzen Tag«, mutmaßte Mommy.
    »Mit Unterricht?«, fragte Nah-nah.
    »Bestimmt«, antwortete Mommy keineswegs überzeugt.
    »Und mit Ausbildung«, ergänzte Daddy. »Sie bringen ihnen bei, Teppiche zu weben und Schuhe zu reparieren. Solide Fertigkeiten, die ihnen helfen, wenn sie älter sind.«
    Als sie zum Parkplatz fuhren, entdeckten sie noch eine Frau in Weiß, die einen Jungen im Rollstuhl schob. »Oh, die Erwachsenen müssen Pfleger sein«, sagte Mommy.
    »Pfleger?«, wiederholte Nah-nah. »Ich dachte, dies ist eine Schule.«
    »Es ist eine andere Art von Schule«, gab Daddy knapp zurück. »Das habe ich dir doch erklärt.«
    Nah-nah warf ihrer Schwester wieder einen schuldbewussten Blick zu – das machte Lynnie Angst.
    »Und Lynnie, du hörst auf, mit dem Aschenbecher zu spielen.«
    »Wir sind ja gleich da.« Mommy klang, als hätte sie den Mund voll Wasser.
    Das Auto fuhr bergauf. Lynnie betrachtete noch einmal den Turm und überlegte, was diese Zeiger bedeuten mochten. Sie wiesen beide ganz dicht nebeneinander nach oben. Wie
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