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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich
Autoren: Ravensburger
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1
    Fluch
    Mit dreizehn bin ich von zu Hause fortgelaufen. Der Grund war ein Fluch.
    Meine Mutter hat mich später mehrere Kilometer weit entfernt an einem ehemaligen Getreidesilo gefunden. Ich weiß noch, dass überall am Himmel kleine tornadoähnliche Gebilde zu sehen waren und mich kurz zuvor ein dreibeiniger Hund ziemlich intensiv beschnüffelt hat. Ich war verschwitzt, durstig, schmutzig und gebrochen.
    Meine Mutter lud mich ein und wendete das Auto. Während der ganzen Rückfahrt schimpfte sie lautstark, wie viel Angst ich ihr eingejagt hätte. Ich drehte den Kopf in Richtung Fenster, um sie auszublenden. Ich war einfach nicht dazu aufgelegt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich keine Lust, mich zu verteidigen. Ich war zu sehr verletzt.
    Stattdessen dachte ich an den Fluch und daran, wie verrückt es gewesen war, zu glauben, ich könne vor ihm flüchten. Wie soll man vor etwas fortlaufen, das in einem drin ist?
    Doch eins hatte ich unterwegs gelernt: dass die Welt ein unglaublich großer, seltsamer und unbekannter Ort war. Dort draußen war alles möglich. Auch Böses. Damals hatte ich es nicht glauben wollen. Jetzt schon.
    Vier Jahre später saß ich in demselben alten Auto und wir waren auf dem Weg gen Osten, in den gebirgigen Norden des Bundesstaates Georgia. Dieses Mal zogen harmlos aussehende Frühlingswolken über den Himmel. Meine Mutter fuhr und meine Schwester Manda sang auf dem Rücksitz lauthals die Titelsongs von Zeichentrickserien, was nicht gerade zur Verbesserung meiner Laune beitrug.
    Nachdem wir die Staatsgrenze hinter uns gelassen hatten, begann sich die Landschaft zu verändern. Wir kamen durch trostlose Städte, die man nur schnellstens wieder verlassen konnte, und dann folgten nichts als rote Erde, mit Moos bewachsene Bauernhöfe und kleine, einsame Häuser vor felsigen Hügeln.
    Auf der letzten Ebene, bevor es in die Berge ging, fuhren wir an Weiden vorbei, auf denen braune und weiße Pferde grasten. Der Anblick der Pferde versetzte mir einen Stich. Gern hätte ich reiten gelernt, aber mein Neurologe, Dr. Peters, hatte meine Mutter davon überzeugt, dass es zu gefährlich sei – wegen des Fluchs.
    Als wir die Ausläufer der Appalachen erreichten, wurde die Bewaldung dichter und es ging bergauf. Moms alter Kia schnaufte und ächzte. Ein blauer Mustang schoss hupend und mit aufblitzender Warnblinkanlage an uns vorbei. Drei Mädchen hingen lachend und kreischend aus den Fenstern. Das Haar wehte ihnen ins Gesicht.
    Ich brauchte gar nicht hinzusehen, um zu wissen, dass Gretchen Roberts am Steuer saß. In der achten Klasse war Gretchen noch meine beste Freundin gewesen, bevor der Fluch mein Leben für immer verändert hatte. Jetzt sah sie klasse aus, besaß ein eigenes Auto und die Jungen bezeichneten sie als G-Girl. Inzwischen redeten wir nicht mehr viel miteinander, höchstens ab und zu auf dem Fußballplatz, wenn es unvermeidlich war.
    Jedes Mal, wenn wir zu einem Turnier fuhren, spielte Gretchen mit uns Katz und Maus, um mich zu ärgern, denn ich war die Einzige in meinem Jahrgang, die keinen Führerschein hatte.
    Leise fluchend blickte ich zu meiner Mutter nach vorn. Sie war über das Lenkrad gebeugt. Ihr langes, braunes Haar versperrte mir den Blick auf ihr Gesicht, das ganz sicher in fürsorglicher Verärgerung verzogen war.
    In zwei Tagen würde auch ich die Hände am Lenkrad, den Fuß auf dem Gas haben. Vor mir nichts als die endlose Straße. In lächerlichen achtundvierzig Stunden würde ich sechs Monate in Folge anfallfrei sein. Und das ist lange genug, um die Verkehrsbehörde von Alabama zufriedenzustellen. Dieses Mal würde ich dem Fluch ein Schnippchen schlagen.
    Mittlerweile krochen wir lang gezogene Serpentinen hinauf, die in einen düsteren Wald führten. Große Bäume ragten über die Straße hinweg und massiver Bewuchs von Kudzu und Giftefeu ließen den Tag dunkler erscheinen.
    »Ich habe gehört, dass Beim Sterben ist jeder der Erste in dieser Gegend gedreht worden ist«, sagte Mom und wirkte nervös. »Dieser alte Film, in dem so ein Prolet den Großstadttypen wie ein Schwein quieken lässt.«
    Ich konnte es mir gut vorstellen. Weiter als ein paar Meter konnte man in dem Dickicht nicht sehen. Aber mir machte das Gefühl des Unheimlichen und Gefährlichen Lust, das Dunkel weiter zu erkunden. Zu fliehen .
    »Wie lässt man jemanden wie ein Schwein quieken?«, fragte Manda. Sie war fünf und der Hauptgrund, weshalb ich jeden Tag letztendlich doch noch lächelte.
    »So«,
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