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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Autoren: Rachel Simon
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Turm am Meer. Sie wollte Buddy erklären,warum ihr der Leuchtturmmann verriet, dass sie hier Schutz finden würden. Aber sie hielt das Baby in den Armen und konnte nicht gestikulieren.
    Clarence folgte ihrem Blick und betrachtete ebenfalls den Leuchtturmmann. Dann wandte er sich ab, legte den Arm auf die Sitzlehne und streifte Lynnies Schulter. Diese Berührung rief ihr vieles ins Gedächtnis, was sie nicht sehen wollte: der Kübel, die knurrenden Hunde, der Geschmack von Stoff. Sie wich zurück, aber Clarence fasste fester zu. Während sie den Wald entlangfuhren und an anderen Häusern vorbeikamen, fragte sich Lynnie: Ist Buddy auf diesem Hof ? Hinter diesem Baum? Wie lange würde es dauern, bis sie noch einmal davonlaufen konnten? Bis sie ihr Kind wieder in den Armen halten durfte?
    Oh, wie gern hätte Lynnie Clarence getreten und gebissen, sich aus seinem Griff gewunden und laut geschrien! Doch wenn Buddy zurückkam, um sie zu holen, musste sie in dem Cottage sein, in dem sie schon die ganze Zeit lebte, und dort wäre sie nicht, wenn sie in die Einzelzelle gesperrt wurde. Deshalb presste sie die Füße auf den Boden und biss die Zähne zusammen. Dann richtete sie den Blick auf die Windschutzscheibe und hoffte, dass Buddy auf der Straße auftauchen würde, bevor sie den Fluss erreichten.
    Sie wachte auf, als der Wagen langsamer wurde. Es war noch Nacht; neben der Straße ragte die hohe Steinmauer der Schule auf. Lynnie hatte nicht mitbekommen, wie sie die Brücke über den Fluss passiert hatten – vielleicht hatte sie Buddy auch verpasst. Enttäuschung lastete auf ihrer Brust. Sie bemerkte, dass der Regen aufgehört hatte, aber die Wolken waren so dicht, dass kein Stern zu sehen war. Bitteres Leid stieg ihr in der Kehle auf. Im Sommer hatte Buddy ihr beigebracht, dass die Sterne während derNacht langsam über den Himmel zogen. Aber bei diesem Wetter war es unmöglich festzustellen, wie nah der Tagesanbruch war.
    Kurz darauf kam die Turmuhr, die auf dem Hügel stand, in Sicht. Von der Straße aus war hinter der Mauer nur diese Uhr zu sehen. Während Mr. Edgar die Melodie, die aus dem Radio drang, mitsummte, Clarence seine Pfeife paffte und Onkel Luke schnarchte, starrte sie auf die Uhr. Sie leuchtete gelb wie der Mond, und die Regentropfen vermittelten den Eindruck, als würde sie weinen.
    Erst zweimal hatte Lynnie diese Uhr von diesem Standpunkt aus gesehen. Einmal vor drei Nächten, als sie und Buddy ausgerissen waren und sie einen Blick zurückgeworfen hatte. Da war sie, die Uhr, die in alle Cottagefenster schien. Buddy hatte sie am Arm weitergezogen und ihr mit einer Geste bedeutet, dass sie laufen sollte. Sie vertraute Buddy und legte die Hand in seine, dann rannten sie los.
    Da gab es noch ein Mal – vor Buddy, Kate, Doreen und sogar vor Tonette. Damals war Lynnie noch klein – ein winziges Selbst, das sie immer noch in ihrem Inneren versteckte wie eine kleine Schale in einer größeren. Jetzt senkte sie den Blick und suchte nach dem kleinen Selbst, das sie gewesen war, bevor sie die Turmuhr gesehen oder die Bedeutung der Steinmauern gekannt hatte.
    In dieser Zeit war ihre ganze Welt die Küche gewesen, wo sie mit ihrer Schwester in dem Unterschrank gespielt hatte. Sie öffneten die Holztüren, zwängten sich ins Reich der Töpfe und setzten sich Kuchenformen auf wie Hüte. Ihre Schwester kannte viele Worte, und sie wusste, wie man sie von sich gab, wenn man ein Lied singen wollte. Lynnie nahm dann immer den Arm ihrer Schwester und grunzte dicht an ihrem Handgelenk, um die Vibrationen zu fühlen. Sie hatte ein Lieblingslied: A Tisket, A Tasket. Abrown and yellow basket. I wrote a letter to my mommy. On the way I dropped it.
    Damals wusste Lynnie noch nichts von Cottages mit Speisesälen. Sie kannte das Esszimmer und den Tisch, unter dem sie und ihre Schwester mit ihren Puppen spielten und Mommys und Daddys Schuhe betrachteten, wenn sie sich im ernsten Ton unterhielten und Dinge sagten wie: »Wir müssen diese Tragödie akzeptieren«, »Ihre Zukunft ist hoffnungslos« und »Wir haben es nicht verdient, ein zurückgebliebenes Kind zu bekommen«, während Lynnie am Knoten in Daddys Schnürsenkeln zupfte. Ihre Schwester fragte sie, ob sie wüsste, was es zu essen geben sollte. Lynnie schnupperte, dann fielen ihr die Namen ein: Kartoffelauflauf, heiße Schokolade. Sie liebte Gerüche und mochte es, das Gesicht auf die Wollmäntel zu drücken, die ihre Mutter den Sommer über unter dem Bett aufbewahrte. Noch
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