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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise
Autoren: Isabel Abedi
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Großeltern zu Besuch waren, kam Uri zum Kaffee. Sie mochte ihn auf den ersten Blick. Ich weiß noch, wie sie seine Wangen tätschelte und zu ihm sagte: ›Du bist etwas Besonderes, mein Junge.‹ Ich glaube, das war der einzige Moment, in dem ich deine Urgroßmutter am liebsten umarmt hätte. Aber deine Großmutter sah etwas anderes in ihm, und als ich mit dir zu ihnen zog, durfte sein Name nicht einmal ausgesprochen werden.«
Und daran hat sich dreizehn Jahre nichts geändert, dachte Wanja und schlang ihre Arme um die Knie. »Aber was?«, fragte sie. » Was hat Oma in meinem Vater gesehen?«
Jo seufzte tief. »Deine Großmutter ist von ihrem Vater verlassen worden, als sie sieben Jahre alt war. Sie selbst hat nie darüber gesprochen. Uri hat es mir einmal erzählt. Mein Urgroßvater muss deinem Vater ziemlich ähnlich gewesen sein. Er arbeitete als Lehrer, aber sein Herz gehörte dem Zirkus und der Musik, das alltägliche Leben war anscheinend eine Qual für ihn. Eines Tages kam ein Zirkus in die Stadt, und als der Zirkus weg war, war auch dein Urgroßvater weg. Deine Urgroßmutter behauptete, er sei mit der Seiltänzerin durchgebrannt, die ihm bei der Vorstellung schöne Augen machte. Alles, was er hinterließ, war ein Abschiedsbrief und tausend Küsschen an die Tochter. Deine Urgroßmutter wird an seinem Weggehen nicht ganz unschuldig gewesen sein. Du kennst sie als alte, kranke Frau, aber sie war eine Tyrannin, herrisch und streitsüchtig bis zum Gehtnichtmehr, und ich glaube, deine Großmutter war nicht die Einzige, die unter ihr gelitten hat. Dein Urgroßvater hat nie wieder etwas von sich hören lassen und sein Weggehen muss deiner Großmutter das Herz gebrochen haben. Du kennst deinen Vater nicht, was schlimm genug ist. Sie aber war sein kleines Mädchen, sie liebte ihren Vater abgöttisch und vielleicht hat sie die Schuld an seinem Weggehen sogar bei sich selbst gesucht. Deine Urgroßmutter scheint ihm irgendwann verziehen zu haben. Aber für Oma ist es unmöglich und ich denke, Jolan hat sie an all das erinnert.«
Wanja kaute auf ihrer Haarsträhne und malte mit der Fingerspitze den rosa Ringelschwanz eines der Schweine auf Jos Bettdecke nach.
»Und der Brief, Jo?« Wanja beugte sich zu ihrer Mutter vor. »Der Brief, der an meinem Geburtstag kam. Er war an mich gerichtet, oder?«
Statt einer Antwort stand Jo auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Sie öffnete die linke Schublade, holte den Brief heraus und reichte ihn Wanja. Ein weißer, wattierter, großformatiger Umschlag.
»An das Kind von Johanna Walters«, stand über ihrer Adresse, in der kleinen, leicht geschwungenen Handschrift, die Wanja bereits kannte. Langsam drehte sie den Brief um. Auf der Rückseite stand Jolans Name. Und seine Adresse. Er lebte in Berlin.
Eine Weile saß Wanja da und starrte den Umschlag an, der in ihren Händen zu glühen anfing. Dann stand sie auf und ging in ihr Zimmer.
    Bis Wanja den Umschlag öffnete, verging noch eine ganze Weile. Sie saß auf ihrem Bett, hielt die Augen geschlossen und ließ Jos Worte an sich vorbeiziehen. Zu zwei Stellen spulte sie innerlich wieder und wieder zurück. Zum Urgroßvater, der mit einem Zirkus fortgegangen war, und zu der Frau am Brunnen, die Jolan gezeichnet hatte. Die alte Frau mit den schneeweißen Haaren, den sehr blauen Augen, dem zarten, mädchenhaften Wesen und dem traurigen Lächeln.
    Als sie die Ziffern ihres Radioweckers viermal klacken hörte, öffnete sie den Brief.
    Liebe Wanja,
du hast ausgesehen, wie ich dich geträumt habe. Ich war im Krankenhaus, am Tag deiner Geburt. Deine Mutter schlief und ich wagte nicht sie zu wecken. Die Hebamme hat mich zu dir geführt, du lagst auf der Säuglingsstation, und als ich mich über dein Bett gebeugt
habe, hast du die Augen aufgemacht. Ich habe die Hebamme gebeten deiner Mutter nicht zu sagen, dass ich da war. Ich wollte sie nicht aufregen, ich wusste nicht, wie sie reagieren würde, aber dich musste ich einfach sehen. Ich kann das, was ich euch angetan habe, nicht ungeschehen machen. Aber ich kann dich auch nicht aus meinem Leben denken, obwohl ich es lange versucht habe.
Ich möchte dich kennen lernen. Ich möchte wissen, wer du bist, wer du geworden bist, ich möchte wissen, was du denkst und was du fühlst. Auf dem Umschlag findest du meine Adresse und unten meine Telefonnummer. Wenn du nach allem, was geschehen ist – sofern deine Mutter dir überhaupt davon erzählt hat – nichts von mir wissen willst, kann ich das verstehen und
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