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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise
Autoren: Isabel Abedi
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sächsischen Dialekt, der ihnen von seinem Platz an einer der Türen zulächelte und sich zweifellos wunderte, warum in aller Welt das Museum seit einem Jahr so regelmäßig von einer Gruppe Jugendlicher besucht wurde.
Im toten Winkel war wie immer niemand, und als das Mädchen mit den grünen Haaren die Klinke der roten Tür herunterdrückte, hörte Wanja sie seufzen. Ihre Schritte hallten im dunklen Gang und dann standen sie im großen Saal mit den Kerzen, der silbrigen Mondkugel, den Arkaden und der Bühne mit dem schmalen roten Tisch. Als die alte Frau auf die Bühne trat, fing jemand zu weinen an. Ein kleines, spindeldürres Mädchen mit einem blonden Rattenschwanz, das Wanja heute zum ersten Mal richtig wahrnahm.
»Anfang und Ende bilden einen Kreis«, sagte die alte Frau, nachdem sie lange geschwiegen hatte. Sie trug ihren hellblauen Samtumhang, und als auf ihren Lippen das traurige Lächeln erschien, dachte Wanja wieder an Jos Geschichte von der Frau am Brunnen. »Ich danke euch für euer Kommen«, fuhr Ananda fort, »und wünsche euch für euren letzten Besuch eine gute Zeit. Denkt daran, dass nichts verloren geht. Alles, was ihr erlebt, bleibt euch erhalten, und das Bild, von dem ihr heute Abschied nehmt, gehört euch für immer.« Ihr Blick wanderte über die Gesichter. Dann klatschte sie in die Hände.
Die Besucher gingen zum letzten Mal in ihre Arkaden.
Ihre Schritte machten kein Geräusch auf dem hellen Holz.
    Aus dem Rauschen in Wanjas Ohren wurde tosender Applaus, und als sie in der Ehrenloge auf der anderen Seite des Rahmens die Augen öffnete, waren die Zuschauerreihen bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Manege war leer. Nur ein großer Koffer stand in der Mitte. Er war rot mit schwarzen Scharnieren und jetzt erst nahm Wanja wahr, dass der Applaus ihnen galt, ihr und Mischa. Er drehte sich zu ihr um. »Bist du bereit?«
    Wanja nickte. Dann erhoben sie sich und stiegen aus dem Rahmen. Die Manege roch nach Sägespänen und Räucherstäbchen, und als Wanja und Mischa vor dem Koffer standen, klopfte Wanja das Herz bis zum Hals. Sie legten die Hände an die Schnallen, nickten sich zu und schoben die schweren Knöpfe zur Seite. Mit einem klackenden Geräusch schnappten die Scharniere auf und der Deckel des Koffers klappte nach vorn. Eine leise Melodie ertönte und aus dem Inneren des Koffers stieg weißer Nebel, der sich langsam über dem Boden der Manege ausbreitete. Auch die Musik schien aus dem Koffer zu kommen. Dann stieg Baba heraus, gefolgt von den anderen Artisten. Sie trugen weiße Umhänge, gefertigt aus abertausend Pailletten, schillerten sie perlmuttfarbig im Licht. Taro kam als Letzter, und als Wanja ihn sah, wurde ihr so schwer ums Herz, dass ihr das Atmen Mühe machte. Selbst sein Lächeln tat ihr plötzlich weh. Die Artisten bildeten einen Halbkreis um ihre Ehrengäste, die Zuschauer applaudierten. Wanja fühlte, wie sie hochgehoben wurde, und im nächsten Moment fand sie sich auf Thryms Schultern wieder, neben ihr, auf den Schultern von Thyra, saß Mischa. Unter dem Applaus der Zuschauer verschwanden die Artisten hinter dem Vorhang.
    Der Auftakt war zu Ende. Gleich würde die Vorstellung beginnen, auf beiden Seiten des Vorhangs war die hohe und noch immer steigende Spannung fast körperlich spürbar. Madame Nui reichte Wanja und Mischa die Kostüme. Unter ihrem Umhang trug sie ein schwarzpelziges Trikot, und bevor sie in Richtung ihres Wohnwagens verschwand, schenkte sie Wanja ein dünnes Lächeln. Die Artisten, die erst später an der Reihe waren, verließen ebenfalls das Zelt, nur Baba, Taro und die Musiker blieben zurück.
    Baba lugte hinter den Vorhang und wandte sich dann ungeduldig zu den anderen um. Sein rundes Gesicht war rot vor Aufregung und sein weißer Turban – ebenfalls mit Pailletten überzogen – schwankte, als er die Hände hob und mit dem Kopf wackelte. Pati, der die erste Nummer hatte, prüfte sein Einrad und Noaeh legte ihren Umhang ab. Darunter kam ein hautenges grünblau schimmerndes Kleid zum Vorschein, das zu den Füßen hin immer schmaler wurde, hinten in einen breiten Fischschwanz überging und Noaeh wie eine Meerjungfrau aussehen ließ. O und Taro trugen eisblaue Mäntel mit feinen dunkelblauen Pflanzenmustern, es waren die gleichen, die Madame Nui auch für Mischa genäht hatte.
    Als Mischa seinen Mantel anzog, musste Wanja an die Generalprobe denken, wo er den Mantel in Madame Nuis Wagen anprobiert hatte. Keine blauen Flecken und keine Schwellungen
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