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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise
Autoren: Isabel Abedi
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entstellten heute sein Gesicht, und wie er so dastand, neben Taro und O, sah er aus, als gehörte er hierher und nirgendwohin sonst. Doch plötzlich runzelte Mischa irritiert die Stirn. »Wieso trägst du eigentlich auch so einen Mantel?«, fragte er Taro und jetzt war auch Wanja verwirrt. Mischa hatte Recht, Taro hatte die Musikstücke zwar angeleitet, aber mitgetrommelt hatte er nicht, jedenfalls nicht bei der Generalprobe.
    Taro lächelte. »Baba hat gesagt, ich darf euch die erste Hälfte begleiten und an den einstudierten Stücken wird sich dadurch nichts ändern. Ich bin einfach bloß, sagen wir, Verstärkung. Einverstanden?«
    Das Strahlen auf Mischas Gesicht war Antwort genug. Im Gehen wandte sich Taro noch einmal zu Wanja um. »Wir treffen uns nach der Pause hinter dem Vorhang. Bis dahin bleibt dir Zeit zum Abschiednehmen.« Mit diesen Worten verschwand er zusammen mit den drei anderen hinter dem Vorhang. Kurz darauf ertönten die Trommeln. Baba hielt den Vorhang auf, Pati warf seinen weißen Umhang ab, drehte sich noch einmal zu Wanja um, warf ihr grinsend eine Kusshand zu, dann schwang er sich auf sein Einrad und fuhr in die Manege, den schillernden Regenbogenschleier hinter sich herziehend. Baba folgte ihm und Wanja war allein. Für einen Moment war sie unschlüssig, wohin sie mit sich sollte. Sie überlegte, ob sie das rote Kostüm und den Federumhang schon jetzt anziehen sollte, legte es aber dann zur Seite und ging hinaus zur Weide, wo Sandesh stand, und dann weiter, zu Amon. Der Wohnwagen des Alten stand offen und Amon saß, wie bei ihrem letzten Besuch, an seinem Tisch vor dem staubigen Fenster. Er löffelte eine Suppe, die einen starken, bitteren Geruch hatte, und als Wanja den Wagen betrat, nickte er, ohne seinen Kopf zu heben.
    Dinge, die man zum ersten Mal sieht, erscheinen einem ähnlich fremd wie die Dinge, von denen man weiß, dass man sie zum letzten Mal sieht. Wanja prägte sich alles ein. Den alten Mantel, ohne den sie Amon nie gesehen hatte. Den Holztisch mit den beiden Stühlen, den einen mit der abgebrochenen Lehne und den anderen, der mit rotem, abgewetztem Samt überzogen war. Die Spüle, den Gasherd, auf dem der Kessel heute nicht dampfte, das Brett darüber mit den Tassen, Gläsern, Gewürzen und Fläschchen. Die schmale Pritsche und das dunkle Holzregal. Die glänzende Kugel, die Wanja damals so magisch angezogen hatte. Sie machte einen halben Schritt darauf zu, dann hielt sie inne. Ihr sehnlichster Wunsch hatte sich erfüllt und Fragen hatte sie keine mehr. Oder doch?
    »Was siehst du, wenn du in die Kugel schaust?«, fragte sie Amon. Statt einer Antwort stand der Alte auf und humpelte schwerfällig auf Wanja zu. Er stellte sich hinter sie, gab ihr einen Schubs in den Rücken, sodass sie nach vorne stolperte. Als sie vor der Kugel standen, atmete der Alte rasselnd ein und aus. Die Kugel begann zu leuchten und nach einer Weile formierte sich in ihrem Inneren ein weißer Turm. Wanja hielt den Atem an. Sie erinnerte sich noch ganz genau an das, was der Alte damals über die Kraft der Kugel gesagt hatte. »Manchmal zeigt sie auch das Wesen, mit dem wir uns am tiefsten verbunden fühlen.« Das war sein letzter Satz gewesen.
    »Den Hüter der Bilder«, flüsterte sie. »Hierin siehst du ihn also?«
Der Alte lachte meckernd und humpelte zurück an den Tisch, wo er sich wieder über seinen Teller beugte und schlürfend weiterlöffelte.
Wanja setzte sich auf den Stuhl neben ihm und schaute hoch zu den kleinen Bildern an der Wand, den Porträts der anderen Besucher. Beim Letzten fühlte sie wieder das traurige Lächeln der uralten Frau. Sie deutete mit dem Kopf auf die Lücke daneben. »Unser Bild wird auch dort sein, nicht wahr?«
Amon schmunzelte und plötzlich fragte sich Wanja, wer als Nächstes hier sitzen würde, an Amons Tisch, und wer im Zirkus Anima dann sein würde, in dieser noch unbekannten Zukunft.
»Was passiert mit dem Zirkus, wenn wir weg sind?«
»Wir ziehen weiter.«
»Wohin?«
»Überall – und nirgends hin.«
Wanja legte ihre Hand auf Amons und musste unwillkürlich an den Kopf einer Schildkröte denken. Genauso hart und runzlig fühlte sich der Handrücken an. »Ich werde dich vermissen.«
Amon zuckte nur mit den Schultern und legte den Löffel zur Seite. »Dazu gibt es keinen Grund. Ein Abschied ist immer nur äußerlich.«
Wanja schwieg. So ähnlich hatte es auch Ananda ausgedrückt.
»Ich soll dir Grüße bestellen«, sagte sie und für einen Moment schienen die
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