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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise
Autoren: Isabel Abedi
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Beschwerden mehr zu machen, dennoch war es Wanja, die heute mit Taro auftreten würde.
    Perun und Pati hatten das Netz gespannt, und als Wanja hinter Taro die Strickleiter emporstieg, wurde die Stille in der Manege eine andere. Spannung lag in der Luft und mischte sich mit den Trommeln, die leise zu spielen begannen.
    Hoch oben auf dem Trittbrett überkam Wanja ein Gefühl von Schwindel, doch es hielt nur für einen Moment. Taro legte seinen Umhang ab, fasste Wanja bei den Schultern, küsste ihr, genau wie bei der Generalprobe, auf die Stelle zwischen den Augenbrauen, dann drehte er sich um und griff nach dem Trapez. Dieses Mal verfolgte Wanja jede einzelne seiner Bewegungen mit den Augen, sog alles in sich auf, und als Taro nach dem vierfachen Salto an dem gegenüberliegenden Trapez in Stellung ging, holte sie noch einmal tief Luft und schwang auf ihn zu, während die Gesichter der Zuschauer auf sie gerichtet waren wie ein einziges großes Gesicht. Damals waren Wanja und Mischa zwei von ihnen gewesen. Jetzt waren sie ein Teil des Zirkus Anima, ein erstes, ein einziges Mal. Als Wanja sich für das Vogelnest bereitmachte, dachte sie nicht an das, was beim letzten Mal geschehen war. Sie dachte gar nichts, sie war nur da, und als Taro sie auffing, zog er sie mit den Armen hoch, bis zu seinem Gesicht. Wanja sah in seine Augen, die lachten und Funken sprühten und sie festhielten für einen ewigen Moment, und Wanja fühlte, dass dies der Abschied war.
    Der Rest der Nummer verging wie im Traum, einem jener Träume, in denen die Bilder gestochen scharf sind und sich in einem Teil des Gehirns ablegen, an dem sie sich anschließend immer wieder neu hervorrufen lassen, so deutlich, dass man später nicht mehr weiß, ob sie Traum oder Wirklichkeit waren.
    Warm und fest war Taros Hand, der ihre am Boden der Manege umschloss, während die Menge applaudierte. Auch Gata stand an ihrer Seite, und als sie hinter den Vorhang liefen, wurde Wanja von den anderen Artisten umringt. Reimundo lächelte und nickte ihr zu, während Babas Gesicht ein einziges Strahlen war, und Thyra schlug ihr so fest auf den Rücken, dass Wanja husten musste. Pati Tatü, mit dem gackernden Huhn im Arm, zog seinen Hut und Perun drückte Wanja ungestüm an sich. »Aus dir wird was, Mädchen. Aus dir wird was.«
    Sulana, die ihre Schlange in den Händen hielt, lächelte Wanja auf ihre seltsame Weise an. Wanja machte einen Schritt auf sie zu und streckte schüchtern ihre Hand nach der Schlange aus.
    »Darf ich mal?«, formulierte sie lautlos ihre Frage. Sulana nickte und hielt ihr den Kopf der Schlange hin. Diese züngelte mit ihrer spitzen Zunge und Wanja berührte vorsichtig, ganz vorsichtig ihren kühlen Kopf. Sulana gab ihr ein Zeichen mit der Hand, was Wanja nicht verstand.
    »Sie mag dich.« Eine leise, tiefe Stimme drang an ihr Ohr, und als Wanja sich umdrehte, stand Thrym hinter ihr. Sein riesiges Gesicht war hochrot. »Ich mag dich auch. Du bist nett.«
    Wanja wusste nicht, was sie entgegnen sollte. Es war das erste Mal überhaupt, dass sie Thrym hatte sprechen hören, und Gata, die neben ihm stand, kam jetzt auch auf Wanja zu.
    »Ihr wart wirklich großartig. Du kannst stolz auf dich sein!« Gata drückte ihr die Schulter und Wanja drehte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. »Ich werde euch trotzdem vermissen«, flüsterte sie, und als sie sich aus der Umarmung löste, schimmerten Tränen in Gatas Augen.
    Taro war gleich nach ihrem Auftritt verschwunden und kam jetzt mit dem Saxofon zurück. Die Artisten verstummten, als er an ihnen vorbei in die Manege ging. Es war Zeit für das Abschlusslied. Leise schlüpfte Wanja durch den Vorhang und stellte sich dicht an den Rand. Taro stand in der Mitte der Manege, aber er wandte sich nicht der Zuschauermenge, sondern dem Balkon der Musiker zu. Das Murmeln der Zuschauer legte sich und in die Stille hinein sagte Taro: »Dieses Stück ist für Mischa.«
    Er setzte das blitzende Instrument an die Lippen und begann zu spielen. Wanja schloss die Augen und fühlte plötzlich, dass es Dinge gibt, die man nur durch die Musik sagen kann. Denn wo Worte einen Umweg machen, geht Musik direkt ins Herz, am tiefsten bei jenen, die ihre Sprache verstehen.
    Als Taro endete, stand Mischa auf und sah zu ihm herunter. Alle waren still, es war, als wären Taro und Mischa die einzigen Menschen in der Manege. Dann drehte sich Taro um und stellte sich zu den anderen Artisten, die jetzt ebenfalls in die Manege gekommen waren. Als
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