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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise
Autoren: Isabel Abedi
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werde es akzeptieren. Aber ich werde nicht aufhören mir zu wünschen, dass wir uns treffen.
PS: Anbei ein Bild von mir. Damit du weißt, wie ich aussehe.
Dein Vater Jolan.
Telefon: 0 30 / 3 11 32 42

    Anbei ein Bild von mir. Wanjas Herz raste, als sie zum zweiten Mal in den Umschlag griff und etwas Postkartengroßes herausholte, das mit dünnem Packpapier umwickelt war. Einmal, zweimal, dreimal. Dann sah sie ihn – und in ihm, sich selbst. Es lag vor allem an den Augen. Große, runde Augen, in denen ein Staunen lag. Das Haar war dunkler als ihres, auch nicht lockig, sondern nur leicht gewellt und schulterlang. Das Gesicht war schmal, mit hohen Wangenknochen und auf seiner Stirnmitte, dicht am Haaransatz war ein großes dunkles Muttermal. Um seinen Mund lag ein trauriger Zug. Wanja runzelte die Stirn. An irgendjemand erinnerte sie dieses Gesicht noch, aber sie wusste nicht, an wen. Leicht strich sie mit ihren Fingern darüber. Vaterbilder. Jetzt hatte sie ein Bild von ihrem eigenen Vater. Sie fuhr zusammen, als die Türklinke heruntergedrückt wurde und Jo ihr sagte, Mischa sei am Telefon. Sie hatte es nicht einmal läuten gehört.
    Die ganze Zeit, während Wanja erzählte, hielt Mischa Jolans Bild in den Händen. Sie saßen im Park auf einer Bank, durch das Himmelgrau brach die Sonne, aber es war noch immer bitterkalt.
    »Guter Typ, dein Vater«, murmelte Mischa, als er ihr das Bild zurückgab.
Auf der Leuchtwand bei einer Bushaltestelle sahen sie die Einladung. Der letzte Besuchstag findet statt am 5. Mai um 15 Uhr , stand in großen roten Buchstaben auf der erleuchteten Fläche, und als Wanja das Datum las, bekam sie im ersten Moment einen Schreck. Der fünfte Mai – das war erst in zweieinhalb Monaten! So viel Zeit war noch nie zwischen zwei Besuchstagen vergangen. Doch als Mischa ihr einen Blick zuwarf, las sie seine Gedanken und war erleichtert. Der Abschied würde schwer fallen und auf diese Weise blieb ihnen Zeit, sich darauf vorzubereiten.
S CHLUSSVORSTELLUNG
    N achdem es Mitte März endlich wärmer geworden war und Paula sich zum ersten Mal laut maunzend vor die Haustür gewagt hatte, ließ der April seine Launen spielen und jonglierte noch einmal mit eisigem Hagel, Schneeregen und Graupelschauern. Der richtige Frühling kam im Mai.
    Über Nacht, so schien es Wanja, explodierten die Bäume, und die zarten Knospen, die sich Ende März schüchtern hervorgewagt hatten, blühten jetzt in den schönsten Farben auf. Die Welt duftete und Jo trug Rot, schon zum dritten Mal in dieser Woche. Ihr Geständnis, wie Wanja es im Stillen nannte, hatte etwas verändert. Jo wirkte gelöster, leichter, und das wirkte sich auch auf ihre Beziehung zu Wanja aus. Trotzdem hatten sie seit diesem Tag nicht mehr über Jolan gesprochen. Jo hatte Wanja auch nicht nach dem Brief gefragt und machte keine Bemerkung zu der Antwort, an der Wanja vier Wochen gesessen hatte. Die ersten – sechs, sieben und achtseitigen – Entwürfe hatte sie zerrissen, ebenso den Brief, der mit Lieber Papa anfing, und die endgültige Version lag jetzt seit sechs Wochen auf ihrem Schreibtisch, neben der schwarzen Vogelfeder, die Wanja damals im Wald gefunden hatte. Etwas in ihr hielt sie davon ab, den Brief abzuschicken, als wäre ein Teil von ihr noch nicht bereit, während ein anderer ungeduldig wartete. Erst am Nachmittag des fünften Mais, einem Sonntag, warf sie den Brief auf dem Weg zum Museum in den Kasten. Es war ein DIN-A4-großer Umschlag, und als Wanja seinen weichen Aufprall hörte, schloss sie die Augen.
    Lieber Jolan , hatte sie geschrieben. Ich will dich kennen lernen. Meine Mutter hat mir erzählt, was passiert ist. Sie sagt, du darfst mich besuchen, nur nicht zu Hause. Dich anzurufen trau ich mich nicht. Bitte ruf du an, damit wir uns verabreden können.
    Deine Tochter Wanja
    PS: Anbei ein Porträt von mir, mein bester Freund hat es gemalt.
Vor dem Museum warteten Mischa, Alex und Natalie und an der Kasse standen schon die anderen Jugendlichen, als hätten sie hier ihren Treffpunkt ausgemacht. Alle waren da, immer waren alle da gewesen, nie hatte jemand gefehlt, nie war jemand zu spät gekommen, außer ihr und Mischa, ein einziges Mal, in der langen Nacht der Museen, dem furchtbarsten Abend in Wanjas Leben. Jetzt lag das Gefühl von Abschied in allen Gesichtern. Ohne zu sprechen, gingen die Jugendlichen durch die Abteilung der Alten Meister, vorbei am Gemälde des Philosophen, vorbei an Marias Himmelfahrt, vorbei am Aufseher mit dem
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