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Die geheime Mission des Nostradamus

Titel: Die geheime Mission des Nostradamus
Autoren: Judith Merkle Riley
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gesehen zu haben. Als dann die Königin sagte: »Heute wird Euch ein Ehrenplatz an meiner Tafel zuteil«, strahlte jeder über diesen erfreulichen Ausgang, und nur er hörte die Schlange hinter ihren Worten zischeln. Er sah Sibille und Nicolas an, die sich noch immer umschlungen hielten, und dachte: Sie sind klug genug, sie können auf sich aufpassen – insbesondere seit ich die Schlangenmutter davon überzeugen konnte, daß ihr Leben von Sibilles Wohlbefinden abhängt. Es reicht. Ich muß nach Haus.

    Nachdem Sibille und Nicolas in jener Nacht auf Pferden der Königin – beladen mit Geschenken und begleitet von zwei bewaffneten Reitern, die darauf achten sollten, daß ihnen auf der Straße nach Paris kein Härchen gekrümmt wurde – aufgebrochen waren, verweilte Nostradamus noch lange in der Astrologenkammer. Das Feuer im Athanor war erloschen, der Raum wirkte klamm und leer. Vor dem alten Mann zuckte und flackerte eine einzige Kerze, während er am Schreibtisch saß und in den Seiten eines Textes aus uralten Zeiten blätterte. Er tat es lustlos.
    »Michel?« sagte eine Stimme.
    »Ach, Anael, du bist es. Mir ist kalt, ich bin traurig, mein Gichtfuß tut weh, und meine Familie fehlt mir. Es ist weit nach Haus, und ich sehe nichts Gutes auf das Land zukommen – einen erbitterten Religionskrieg – ich habe versagt. Der Krieg kommt. Die Frage ist nur, wann. Gott stehe uns bei.«
    »In Wahrheit wird es sechs Bürgerkriege um die Religion geben, je nachdem, wie du zählst, Michel.«
    »Mußtest du mir das unbedingt mitteilen?«
    »Ich bin nach der gestrigen kleinen Séance nur zurückgekehrt, weil ich dich meinen Entschluß hören lassen wollte.«
    Anaels Worte klangen selbstzufrieden. Seine mitternachtsblaue Gestalt füllte das hohe Zimmer aus, und die funkelnden Sprenkel wirbelten und hüpften vor geheimer Freude.
    »Du willst die Schlangenkönigin dran hindern, die Macht zu ergreifen«, rief Nostradamus.
    »Lieber Himmel, nein – das kann ich nicht. Alles ist bereits dort im Geschichtsschrank. Wenn ihr Sohn, der Frosch, stirbt, schickt sie die Königin der Schotten nach Schottland zurück und zieht in das Zimmer ihres kleineren Sohnes. Den führt sie dann jahrelang wie eine Puppenspielerin, bis er vor Reue über all das Böse, was er auf ihren Befehl getan hat, qualvoll stirbt.«
    »Anael, du bist schlicht und einfach niederträchtig. Ich habe keine Lust, mir das anzuhören.«
    »Nicht ich bin niederträchtig«, entgegnete Anael, richtete sich auf und plusterte die schimmernden Rabenflügel. »Weißt du denn nicht, daß ich ungemein aufmerksam und rücksichtsvoll bin? Nicht nur, daß ich mit dir auskomme, jetzt habe ich mich sogar dazu durchgerungen, diesem hochgewachsenen Mädchen zu helfen, ins Geschichtsgeschäft einzusteigen. Ein wahrer Segen! Ihre Gedichte – mit einer einzigen Ausnahme – verursachen mir eine Gänsehaut.«
    »Ah, diese blumige Huldigung an die Hofdamen, o pfui. Hast du gewußt, daß sie mir eine Abschrift geschickt hat? Mit einem rosa Bändchen verschnürt. Diese schleimige Madame Gondi als weiße Lilie und Madame d'Elbène als Maiglöckchen – pfui, einfach scheußlich…« Nostradamus schüttelte sich.
    »Aber die Damen waren einfach entzückt, das mußt du doch zugeben. Es sieht mir ganz danach aus, als ob das eine Flut ähnlicher Huldigungen auslösen würde. Du siehst also: Wenn ich ihr behilflich bin, Geschichte zu schreiben, statt weiterhin diese schrecklichen poetischen Gebinde hervorzubringen, erspare ich der französischen Literatur unzählige Nachahmungen ähnlicher Greuel. Ist das nicht eine feine Sache? Ist es nicht viel aufregender, die Geschichte der Literatur zu verbessern, statt sich der bürgerlichen anzunehmen? Ich für mein Teil ziehe die würdigere Sphäre der höheren spirituellen Geschichten vor«, prahlte Anael und strahlte den erschöpften alten Doktor von oben herab an.
    »Anael, du treibst mich in den Wahnsinn«, seufzte Nostradamus. »Vermutlich gehört das auch zu dem Fluch.«
    »O nein«, Anael schien vollkommen glücklich und aufgeblasen von seiner neuen Idee, »das macht lediglich mein Temperament. Ihr armen Sterblichen werdet so schnell alt und säuerlich, ich hingegen – ich befinde mich noch in der Morgenröte meiner Existenz.« Er reckte die Flügel, bis sie in voller Größe ausgebreitet waren, und die nackten blauen Arme mit den rauchigen Händen. In seinem langen Oberkörper wirbelten funkelnde Sprenkel. Anael war in der Tat sehr schön, und das
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