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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter
Autoren: C.H.Beck
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stellte sich die Frage, wo eigentlich die Grenze im Osten war. Selbst wenn man berücksichtigt, was ich über die Marken und den lange Zeit verschwommenen Grenzbegriff gesagt habe, wirft die Ostgrenze des mittelalterlichen Europa schwer wiegende Probleme auf. Die damaligen Gelehrten haben im Allgemeinen die Vorstellungen der antiken griechischen Geographen übernommen. Für sie lag die Grenze zwischen Europa und Asien am Fluss Tanais, dem Don, der sich ins Asowsche Meer ergießt, so dass Weißrussland und die heutige Ukraine eingeschlossen waren, Russland indes kaum. Jedenfalls gab es kein mittelalterliches Europa, das vom Atlantik zum Ural reichte! Aber jenseits des Byzantinischen Reichs taucht im Lauf des Mittelalters ein weiterer Orient auf, noch realer und bedrohlicher: der muslimische Orient. Und dieser Orient überschwemmt die Byzantiner und ersetzt sie im 15. Jahrhundert durch die Türken – für Europa ein nicht enden wollender Alptraum.
    Bei dem antiken Erbe, das von den Menschen des Mittelalters weitergegeben und oft belebt wurde, sind vier Bereiche zu unterscheiden.
    Aus dem ersten, dem
griechischen Erbe
, stammt die Figur des Helden, die, wie wir sehen werden, in Gestalt von Märtyrern und Heiligen christliche Züge annahm; ferner der Humanismus, der auch durch das Christentum verändert wurde, sodass man im 12. Jahrhundert von christlichem Sokratismus spricht; die Kultbauten, der Tempel, an deren Stelle – sei es durch Umbau oder durch Neubau nach Zerstörung – Kirchen traten; der Wein, der auf dem Umweg über die Römer zum Getränk des Adels und zum geweihten Trank der christlichen Liturgie wurde. Hinzu kommen, neben der
polis
als ferner Vorläuferin der mittelalterlichen Stadt, das Wort «Demokratie», das erst nach dem Mittelalter umgesetzt werden sollte, und natürlich der Name «Europa».
    Das
römische Erbe
ist sehr viel reicher, weil das mittelalterliche Europa direkt aus dem Römischen Reich hervorgegangen ist. Da haben wir zuerst den wichtigsten Kulturträger, die Sprache. Im mittelalterlichen Europa wurde Lateinisch gesprochen und geschrieben, und als das Lateinische nach dem 10. Jahrhundert allmählich den Volkssprachen wich, lebte das linguistische Erbe in den so genannten romanischen Sprachen – Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch – fort. Alle anderen Teile Europas profitierten in abgeschwächter Form von dieser lateinischen Kultur, besonders an den Universitäten, in der Kirche, in der Theologie, im wissenschaftlichen und philosophischen Vokabular. Den Männern des Mittelalters, Krieger in dieser europäischen Tradition, hinterließen die Römer ihre Kriegskunst, namentlich durch den spätantiken Autor eines Traktats über das Militärwesen, Vegetius (um 400 n. Chr.), der die Militärtheorien und
-praktiken des Mittelalters beeinflusste. Ein anderes Vermächtnis, das wiederentdeckt und ungefähr ab dem Jahr Tausend entwickelt wurde, ist die Architektur. Das Mittelalter hat von den Römern die Steinkonstruktion, das Gewölbe und das berühmte Handbuch ihres Theoretikers Marcus Vitruvius geerbt, von den großen bautechnischen Leistungen jedoch nur partiell profitiert. Marc Bloch betont, wie sehr sich die mittelalterliche Straße von der römischen unterscheidet. Die Letztere, geradlinig und gepflastert, diente vor allem militärischen Zwecken und verlangte ein höheres technisches Wissen. Im Mittelalter gehen die Männer und Frauen zu Fuß, schieben ihre Karren und bewegen sich mit Eseln oder Pferden auf unbefestigten, den Bodenformationen folgenden Landstraßen von Ort zu Ort, je nachdem, wo es eine Kirche oder einen Wandermarkt zu besuchen gilt. Aber die überkommenenFragmente römischer Straßen bleiben symbolische Richtpunkte.
    Ebenfalls aus der römischen Antike übernommen, aber den mittelalterlichen Verhältnissen angepasst worden war die Tatsache, dass Stadt und Land Gegensätze bildeten und sich zugleich ergänzten. Der Gegensatz
urbs

rus
mit seiner kulturellen Dimension des Gegensatzes zwischen städtisch und bäuerlich findet sich in anderen Formen wieder. Der Verländlichung im mittelalterlichen Europa folgt die Verstädterung. Krieger und Bauern – der Adel bewohnt, außer in Italien, gewöhnlich Burgen auf dem Lande – empfinden eine Mischung aus Neid, aber mehr noch Feindseligkeit gegenüber den Städtern und ihrer Weichlichkeit; umgekehrt verachten die Letzteren die grobschlächtigen Bauern, umso mehr, als die Christianisierung in den
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