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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter
Autoren: C.H.Beck
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europäische Welt wurde seither ununterbrochen von gemeinsamen Strömungen durchzogen.»[ 2 ]
    Diese ersten Ansätze zu Europa und die bereitgestellten Strukturen dessen, was Europa seit dem 18. Jahrhundert werden sollte – das französische Adjektiv
européen
tauchte 1721 auf und der Ausdruck
à l’européenne
1816 –, haben nichts von einem linearen Prozess an sich. Sie rechtfertigen auch nicht die Vorstellung von einer Einheit, die sich zwangsläufig aus der Geographie und der Geschichte ergibt. Das heutige Europa muss noch gebaut, ja sogar noch gedacht werden. Die Vergangenheit macht Angebote, aber keine Vorschriften. Die Gegenwart hängt ebenso wie die Kontinuität vom Zufall und dem freien menschlichen Willen ab.
    Der folgende Essay soll zeigen, welches die mittelalterlichen Ansätze zu Europa waren und was diesen Ansätzen mehr oder weniger entgegengewirkt, was sie zunichte gemacht hat, ohne dass es sich dabei um eine stetige Vor- oder Rückwärtsbewegung gehandelt hätte. Aber er versucht auch zu beweisen, dass diese Zeit – vom 4. bis zum 15. Jahrhundert – wesentlich war und das mittelalterliche Erbe das wichtigste aller Vermächtnisse ist, die im Europa von heute und morgen ihre Wirkung entfalten.
    Das Mittelalter hat die realen und problematischen Merkmale Europas sichtbar gemacht und vielfach begründet: Die Verknüpfung der potentiellen Einheit mit einer fundamentalen Vielfalt, die gemischten Bevölkerungen, die Spaltungen und Gegensätze zwischen Osten und Westen, Norden und Süden, die ungewisse Ostgrenze, das einigende Primat der Kultur. Bei meinen Ausführungen stütze ich mich sowohl auf das, was man historische Fakten nennt, als auch auf Vorstellungen, die Phänomene der Mentalität sind. Die Ausbildung dieser Mentalitäten, dieses im Mittelalter besonders lebhaften Imaginären, ist ein wesentlicher Zug der Genese Europas als Realität und als Idee. Man sollte dieses Buch von Anfang an mit dem Bewusstsein lesen, dass die Grenze zwischen Wirklichkeit undVorstellung im Mittelalter immer fließend war. Strenge lineare Grenzen, wie der römische Limes sie über weite Entfernungen gezogen hatte, gab es nicht mehr – eine Folge der Durchlässigkeit zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Für die Männer und Frauen des Mittelalters war die Jakobsleiter, auf der Engel und Menschen einander begegnen, die sie unterschiedslos hinauf- und hinabsteigen, eine alltägliche Vision. Die lineare Grenze moderner Prägung, die sich auf Pfosten oder Grenzsteine stützt, taucht im Mittelalter spät und nur partiell in Verbindung mit der Staatenbildung auf.
    Erst an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, als die Wirtschaft auflebt und mehr oder weniger nationale ökonomische Kreisläufe entstehen, werden Zollstellen errichtet. Die Angliederung des Roussillon an den französischen Languedoc gegen Ende des 15. Jahrhunderts, die Konflikte zwischen den katalanischen Kaufleuten, dem König von Aragón und dem König von Mallorca um Steuererhebungen auf katalanische Waren im Hafen von Collioure, der nunmehr letzten Station vor dem französischen Mittelmeer, machen deutlich, wie die Grenzen in tastenden, schwierigen Auseinandersetzungen konkretisiert wurden.
    Mit Recht haben die Mediävisten den amerikanischen Grenzbegriff, den der Historiker Frederick Jackson Turner für die
Far Western Frontier
entwickelt hat, als auf die europäische Geschichte nicht anwendbar zurückgewiesen und betont, dass die Gebiete, die während des Mittelalters – bis zur späten Staatenbildung – als Grenzen dienten, Zonen der Begegnung, der Zusammenstöße, aber auch des Austausches und der Vermischung waren:
Marken
, so die Bezeichnung, die Karl der Große diesen Gebieten Anfang des 9. Jahrhunderts gab, die im mittelalterlichen Europa eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt haben. Wie Jean-François Lemarignier gezeigt hat, war die Mark in der Tat ein privilegierter Ort im Lehenswesen, da dort der Vasall seinem Herrn die Lehenshuldigung „in marchio“, „auf der Grenze“, leisten konnte, und es ist anzunehmen, dass diese Verschwommenheit, diese Durchlässigkeit der Pseudogrenzen die Entstehung eines gemischt bevölkerten Europa begünstigt hat. Auch Ströme und Flüsse, die oft eine Grenzfunktion erfüllten, galten eher als «neutrale» Stätten der Begegnung zwischen Mächtigen –dem Kaiser
und
dem König von Frankreich beispielsweise – denn als Ersatz für Grenzwälle. Das westfränkische, später französische
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