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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter
Autoren: C.H.Beck
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sondern der gesamten zeitgenössischen Kultur. Über das Mittelalter und die Bibel wurden ganze Bücher geschrieben. Ich will hier nur daran erinnern, dass das Alte Testament in erster Linie eine Proklamation des Monotheismus ist. Man könnte sagen, daß Gott mit Hilfe des Christentums in die Gedankenwelt und die Geschichte Europas Eingang fand. Die Bibel wird im Mittelalter wie eine Enzyklopädie behandelt, die alles Wissen enthält, das Gott dem Menschen zur Verfügung gestellt hat. Sie ist auch ein grundlegendes Handbuch der Geschichte, das vor Augen führt, wie sich, nach der Zeit der Patriarchen und der Richter, der Sinn der Geschichte seit dem mit Saul und David beginnenden Königtum entfaltet. Die Wiederaufnahme der Salbung bei der Königsweihe durch die Pippiniden und die Karolinger zeigt die Wiederaufnahme des normalen, gottgewollten Laufs der Geschichte an. Vergessen wir nicht, dass das historische Gedächtnis, das ein wesentliches Element des europäischen Bewusstseins geworden ist, einen doppelten Ursprung hat: den Griechen Herodot, Vater der Geschichtsschreibung, aber auch die Bibel.
Ausblick auf die mittelalterliche Genese Europas
    Ich will kurz darlegen, welche aufeinander folgenden Schichten das Mittelalter hervorgebracht hat, die, eine nach der anderen, die Grundlagen Europas bilden.
    Eine erste Schicht entsteht während der Zeit der Invasionen und der Ansiedlung der Barbaren im ehemaligen Römischen Reich, zwischen dem 4. und dem 8. Jahrhundert. Sie bereitet den Boden für die Empfängnis Europas.
    Dann, vom 8. bis 10. Jahrhundert, bildet sich die karolingische Schicht. Das Ergebnis ist ein fehlgeborenes Europa, das aber ein Erbe hinterlässt.
    Um das Jahr Tausend taucht ein Traum von einem möglichen Europa auf.
    Ihm folgt das feudale Europa vom 11. bis 13. Jahrhundert.
    Im 13. Jahrhundert erblüht das glanzvolle Europa der Städte, der Universitäten und der Scholastik, der Kathedralen und der Gotik.
    Schließlich erschüttern die Krisen des 14. und 15. Jahrhunderts die prä-europäischen Strukturen, ohne sie jedoch zu zerstören.
    Der Aufbau dieses Buches in Form chronologischer Phasen und Schichten, der, wie mir scheint, der Bewegung der Geschichte folgt, bringt eine fortwährende Zerlegung historischer Abschnitte mit sich. Ich hoffe, dass der Leser nicht müde wird, mir auf diesem Weg zu folgen, denn er lässt ihn ins Herz des europäischen Raums, seiner neuen Gesichter und neuen Unsicherheiten eindringen.

I. Die Empfängnis Europas
(4.–8. Jahrhundert)
    Der Übergang von der Antike zum Mittelalter, wie es in der Geschichtsschreibung gewöhnlich heißt, scheint für jeden, der versuchen will, den Ablauf der europäischen Geschichte zu begreifen, eine unbestreitbare Realität. Man sollte allerdings die Vereinfachungen fallen lassen, die vom 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ins Kraut geschossen sind und in diesem Übergang eine reine Katastrophe sehen. Ein angesehener Historiker hat es auf den Punkt gebracht: Das Römische Reich sei keines natürlichen Todes gestorben, sondern ermordet worden, und diesem Mord sei das Mittelalter entsprungen. Heute halten die Historiker den Übergang von der Antike zum Mittelalter für das Ergebnis einer langen, positiven Entwicklung, auch wenn sie mit Ausbrüchen von Gewalt und spektakulären Ereignissen einhergegangen ist. Um diese veränderte Sichtweise zu unterstreichen, bezeichnet man die Periode vom 4. bis zum 8. Jahrhundert jetzt eher als Spätantike – was mir besser der Art und Weise zu entsprechen scheint, wie sich die Geschichte im Allgemeinen entwickelt. Revolutionen sind selten und manchmal trügerisch. Aber auch wenn die Geburt des Mittelalters nicht schnell vonstatten ging, hat sie die Geschichte der westlichen Regionen des eurasischen Kontinents doch in ihren Grundfesten erschüttert.
    Der amerikanische Historiker Patrick J. Geary hat sehr schön dargelegt, dass die Merowingerzeit noch nicht das Mittelalter im eigentlichen Sinne war, sondern eben jene Spätantike, ein Übergang der langen Dauer, im Laufe dessen die ersten Ansätze zu Europa auftauchen. Diese Ansätze zeigen sich mitten im Prozess der Christianisierung des Römischen Reichs, zwischen der Anerkennung der christlichen Religion durch Kaiser Konstantin den Großen in den Mailänder Edikten von 313 und der Erhebung des Christentums zur offiziellen Staatsreligion durch Kaiser Theodosius den Großen. Der Zusammenhangzwischen dieser Entscheidung und der
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