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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter
Autoren: C.H.Beck
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Königreich war im Osten von den vier Flüssen Schelde, Maas, Saône und Rhône begrenzt. Daniel Nordman hat festgestellt, dass der Chronist Froissart – der größte «Europäer» unter den Chronisten aus dem 14. Jahrhundert – zur Bezeichnung dessen, was wir Grenze nennen, am häufigsten den Ausdruck
marche
(Mark) gebraucht, während
frontière
(Grenze) der kriegerischen
Front
vorbehalten bleibt.
    Ehe wir uns nun auf die Suche nach Europa im Mittelalter machen, möchte ich darauf hinweisen, dass sowohl im Mittelalter als auch in der modernen Geschichtsschreibung konkurrierende Begriffe gebraucht worden sind. Wie wir gesehen haben und noch sehen werden, stand der Begriff «Europa» im Gegensatz zu Asien und dem Orient im Allgemeinen. Der Ausdruck «Okzident» kann also ein Gebiet bezeichnen, das im Wesentlichen das Territorium Europas ist. In der Vorstellung wurde dieser Wortgebrauch, ohne dass er im Mittelalter verbreitet gewesen wäre, durch die einem Ost- und einem Westreich entsprechende Teilung der Christenheit in das Byzantinische Reich einerseits und die lateinische Christenheit andererseits verstärkt. Sie war die große linguistische, religiöse und politische Zäsur zwischen Ost- und Westeuropa, die das Mittelalter seit dem Römischen Reich verschärft und besiegelt hat.
    Der «westliche» Charakter des lateinisch-christlichen Europa, aus dem das heutige Europa hervorgegangen ist, wurde im 12. und 13. Jahrhundert von einigen christlichen Intellektuellen mit einer Theorie untermauert, die besagt, dass die Macht und die Zivilisation im Lauf der Geschichte von Osten nach Westen gewandert seien:
Translatio imperii, translatio studii
– wobei die Übertragung der Macht vom Byzantinischen auf das Deutsche Reich und der Übergang der Gelehrsamkeit von Athen und Rom nach Paris besonders betont wurden. Dieser Marsch der Zivilisation nach Westen hat sicher viele Europäer der folgenden Jahrhunderte in der Überzeugung von einer Überlegenheit der abendländischen Kultur bestärkt.
    Anders als oft angenommen wird, stammt diese Vorstellung nicht aus den ersten Jahrhunderten des Christentums. Gewiss,zur Zeit Karls des Großen sprach man von einem christlichen Reich, aber erst die „kämpfende Kirche“ des 11. Jahrhunderts, die so genannte Gregorianische Reform, der Einfluss des großen religiösen Ordens von Cluny und die Kreuzzugsideologie haben die «Christenheit» zu einer Bezeichnung für das Territorium gemacht, das der Schoß Europas werden sollte. Der Ausdruck «Christenheit» kann Verwirrung stiften. Es geht nicht darum, die wesentliche Bedeutung des Christentums für die Entstehung Europas und die Ausbildung eines europäischen Identitätsgefühls in Abrede zu stellen. Sogar nachdem der Geist der Aufklärung und der Laizismus Europa eingenommen hatten, blieb dieser christliche Grundbestand, ob offen oder unterschwellig, von größter Bedeutung geblieben. Aber die Christenheit war nur eine lange und sehr wichtige Episode einer Geschichte, die vor dem Christentum begonnen hat und über sein Abflauen hinausgeht. Um die Unsicherheit der Bezeichnungen zu verdeutlichen, sei schließlich angemerkt, dass die Muslime in der Zeit der Kreuzzüge pauschal «Franken» zu den Christen sagten, während die Christen umgekehrt von «Sarazenen» sprachen – der Name eines arabischen Stammes, der erst von den Byzantinern, dann von den Abendländern für alle Muslime gebraucht wurde – oder auch von «Mauren» oder «Mohren», ein Ausdruck, der sich von „Morisco“ ableitete, womit die Spanier die Muslime bezeichneten.
    Um, wie in diesem Buch, von der Geschichte Europas sprechen zu können, muss zuerst die Geschichte des Namens «Europa» erhellt werden. Denn für den Historiker – und darin stimmt er mit den Gelehrten des Mittelalters überein – ist die Existenz mit dem Namen verbunden. Gott hat es in der Schöpfung durch das Wort gezeigt. Aber wir müssen auch im Auge behalten, dass die Benennungen, die uns am zuverlässigsten erscheinen, von der Geschichte durchgerüttelt worden sind und dass diese Wechselfälle eine gewisse Unsicherheit in Hinsicht auf die bezeichneten Personen oder Realitäten enthüllen.

Zum Auftakt: Vor dem Mittelalter
    Die Geschichte Europas verpflichtet den Historiker und seine Leser, eine Perspektive der langen Dauer einzunehmen. Für jede Aussage über die Ansätze zu Europa während der mehr als tausend Jahre vom 4. bis zum 15. Jahrhundert, die das traditionelle Mittelalter abdeckt,
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