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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter
Autoren: C.H.Beck
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sind dem Orient entlehnt. Die Aneignung des semitischen Begriffs, der für die phönikischen Seeleute Sonnenuntergang bedeutete, erfolgte im 8. Jahrhundert v. Chr. Europa erscheint als Tochter des Agenor, König von Phönikien, dem heutigen Libanon. Zeus, der höchste Gott der Griechen, soll sie, in Liebe zu ihr entbrannt, geraubt und in Gestalt eines Stieres nach Kreta entführt haben, wo sie ihm Minos gebar, jenen König, der seinem Volk Kultur und Gesetze brachte und der nach seinem Tod einer der drei Richter der Unterwelt wurde. So kommt es, dass die Griechen die Bewohner des äußersten Westens des asiatischen Kontinents Europäer nannten.
    Der Kontrast zwischen Orient und Okzident – gleichgesetzt mit Europa – verkörpert für die Griechen den fundamentalen Konflikt der Zivilisationen. Der berühmte griechische Arzt Hippokrates, der von Ende des 5. bis Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. lebte, stellt Europäer und Asiaten im Licht jener Konflikte gegenüber, die zur Erhebung der griechischen Städte gegen das Perserreich führten und zweifellos der erste Ausdruck des Gegensatzes zwischen Orient und Okzident sind: den medischen Kriegen, bei denen der griechische David den asiatischen Goliath in Marathon besiegte. Hippokrates zufolge sind die Europäer mutig, aber auch kriegerisch und angriffslustig, während er die Asiaten als weise und kultiviert, aberfriedfertig, ja fast antriebslos beschreibt. Die Europäer hängen an der Freiheit und sind bereit, für sie zu kämpfen, wenn nicht gar zu sterben. Ihr bevorzugtes politisches System ist die Demokratie, während die Asiaten bereitwillig die Knechtschaft akzeptieren, wenn ihnen dafür Wohlstand und Ruhe geboten werden.
    Dieses Bild der Orientalen blieb über die Jahrhunderte erhalten, und im 18. Jahrhundert brachten die europäischen Philosophen der Aufklärung die Theorie vom aufgeklärten Despotismus als dem in Asien am besten heimischen politischen System hervor; in der gleichen Richtung definierte der Marxismus im 19. Jahrhundert eine spezifisch asiatische Produktionsweise als Basis autoritärer Regime. Die mittelalterliche Gesellschaft, eine Gesellschaft von Kriegern und Bauern, widerlegte Hippokrates nicht: Durch die Heldenlieder, die
chansons de geste
, gab sie das Bild des christianisierten kriegerischen Helden an Europa weiter.
    Das antike Griechenland hat Europa also ein doppeltes Erbe hinterlassen, den Gegensatz zum Orient, zu Asien, und das demokratische Modell. Das Mittelalter ließ dieses Modell brachliegen – es kehrte in verbesserter Form erst mit der Französischen Revolution nach Europa zurück. Anders der Gegensatz zum Orient, der sich im mittelalterlichen Abendland verschärfte. Genauer gesagt kannte man dort nicht nur einen Orient, sondern mindestens zwei. Der erste, näher gelegene, war die griechisch-byzantinische Welt. Sie erbte den Gegensatz zwischen griechischer und lateinischer Sphäre, den das Römische Reich hinterlassen hatte, und verstärkte ihn durch den wachsenden Gegensatz zwischen dem römischen und dem orthodoxen Christentum, ohne sich wirklich als eine zusammengehörige christliche Gemeinschaft zu begreifen. Am schärfsten kam diese Feindseligkeit 1204 zum Ausdruck, als die Lateiner den vierten Kreuzzug nach Konstantinopel umlenkten, um die Stadt zu erobern und zu plündern.
    Hinter dem griechischen Orient lag für die Abendländer dieser Zeit ein anderer, fernerer Orient, der lange ein zwielichtiges Bild abgab. Einerseits war er die Brutstätte von Unglück und Bedrohungen; aus dem Orient kamen die Epidemien, die Häresien. Im fernöstlichen Asien drängten sich die zerstörungswütigenVölker Gog und Magog, die der Antichrist am Ende der Zeiten entfesseln würde und die die Menschen des Abendlands im 13. Jahrhundert in den anstürmenden mongolischen Horden zu erkennen glaubten. Aber der Orient war auch ein Reich der Träume, ein Wunderland, das Land des legendären Priesterkönigs Johannes, der große Reichtümer besaß und die Christenheit im 12. Jahrhundert als politisches Vorbild bestach.
    Schließlich haben die griechischen Geographen der Antike dem Mittelalter ein geographisches Wissen hinterlassen, das mit Problemen beladen ist, die bis heute fortbestehen. Während im Norden, im Westen und im Süden das Meer die natürliche Grenze Europas bildete – eine Grenze, die den mittelalterlichen Menschen wegen ihrer geringen nautischen Kenntnisse und der schlecht gerüsteten Schiffe unverrückbar schien –,
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