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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen
Autoren: Ralf Isau
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lange als fremd empfunden, als etwas, das nicht zu ihr passte. In Momenten wie diesen wurde dieses Gefühl übermächtig. Während ihrer kurzen Rede glaubte sie aus einhundertdreißig Augenpaaren angestarrt zu werden. Was verbarg sich hinter den lächelnden Masken dieser Leute? Ob sie sich fragten, was für eine Frau das ist, die schon beim Einlass in den Saal sämtliche Handys abschalten lässt? Nicht dass alle diese exzentrische Bitte ernst genommen hätten, denn Alex spürte immer noch mindestens vierzig funkende Mobiltelefone – vermutlich waren sie lediglich lautlos gestellt worden. Zu ihren stechenden Kopfschmerzen gesellte sich ein unangenehmes Schwindelgefühl.
    Nervös suchte sie in ihrem Manuskript eine Abkürzung, um schneller zum Ende zu kommen. Ohne es zu merken, nestelte sie an den Trägern ihres schwarzen Kleides herum. War der Ausschnitt zu tief? Saß die Frisur? Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie in ihren kurzen, hellblonden Haaren herumzupfte. Als wenn das etwas nützen würde! Sagte man nicht, einen schönen Menschen könne nichts entstellen? Ihr analytischer Verstand präsentierte ihr sofort den logischen Umkehrschluss: Einen hässlichen vermochte gar nichts zu schmücken.
    Nicht einmal violette Augen.
    Sie hätte Kontaktlinsen tragen können, um diese Laune der Natur zu verbergen, tat es aber nicht, weil sie sich einbildete, so besser von ihren anderen Unzulänglichkeiten abzulenken. Manchmal dienten die Augen ihr auch als Waffe. Ein einziger Blick aus ihnen konnte viel Verwirrung stiften, vor allem bei Männern.
    Mit dem ersten Satz von Joseph Haydns Symphonie Nr. 92, in einer eigens für das studentische Kammerorchester erstellten Bearbeitung, kam die Zeremonie zum Abschluss. Alex atmete auf. Jetzt noch ein wenig Smalltalk mit den Gratulanten und das Interview, dann konnte sie sich endlich wieder in ihr Londoner Refugium zurückziehen.
     
     
    Die Glückwünsche dauerten noch länger als befürchtet. Alex hätte schwören können, einige Hände mehrfach geschüttelt zu haben. Sogar Autogramme musste sie geben. Sie lächelte, während ihre Kopfschmerzen Orkanstärke erreichten. Ihr war heiß. Ein Team des lokalen Fernsehsenders SIX TV filmte jeden Schweißtropfen. Sie kam sich vor wie die Barbara Cartland der ID-Szene. Irgendwann – eine Ewigkeit schien vergangen zu sein – drängte sich Susan Winter durch die Menge.
    »Hallo, Schatz. Was ist mit unserem Interview?«
    Susan Winter war Redakteurin beim Daily Mirror, der wohl größten Boulevardzeitung der Insel. Sie kannten einander seit ihrem ersten Semester am Londoner Goldsmiths, als Susan eines Morgens zu spät in die Vorlesung geplatzt war, sich neben Alex in die letzte Reihe gesetzt und von da an wie eine Klette an ihr gehangen hatte. Einige Wochen danach gestand ihr Susan, sie sei unsterblich in sie verliebt. Alex war geschockt. Gar nicht so sehr das Angebot löste ihre Bestürzung aus als vielmehr die Bestätigung der eigenen, bis dahin erfolgreich verdrängten Gefühle.
    Beinahe brüsk hatte sie die Avancen ihrer Verehrerin zurückgewiesen. Damit hielt sie den N ormalzustand – ihr Einzelgänger tum – für wiederhergestellt. Doch Susan überrumpelte sie einmal mehr mit ihrer schonungslosen Offenheit. Freimütig bekannte sie, nie irgendwelche lesbischen Beziehungen gepflegt oder auch nur in Erwägung gezogen zu haben. Ob sie nicht trotzdem Freundinnen sein könnten?
    Die Ehrlichkeit verhalf Susan schließlich zum Sieg. Von den wenigen oberflächlichen Freundschaften, die Alex je zugelassen hatte, rangierte die quirlige Reporterin an Platz eins. Ungefähr zweimal im Jahr gingen sie zusammen essen, und vielleicht doppelt so häufig telefonierten sie miteinander. Zuletzt hatte Susan ihrer alten Kommilitonin per E-Mail die Zusage für ein Interview abgetrotzt. Weil sie direkt von einer Dienstreise nach Oxford kommen werde, sei es das Beste, sich mit dem Fotografen am Ort der Preisverleihung zu treffen und dort das offizielle Gespräch zu führen. Anschließend könne man gemeinsam mit dem Zug nach London zurückfahren und von alten Zeiten plaudern.
    Endlich wurde es leerer im Saal. Auch das Kamerateam rückte ab. Nachdem sich Alex bei Professor Lambert für seine Laudatio bedankt und der Fotograf vom Mirror seine obligatorischen Fotos geschossen hatte, konnte sie sich endlich ganz ihrer Freundin widmen. Sie saßen am Rand der Bühne, an einem weiß gedeckten Tisch, auf dem eine Vase mit einem bunten Blumenstrauß stand.
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