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Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Titel: Wer hat Angst vorm boesen Wolf
Autoren: Karin Fossum
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EIN GRELLER SONNENSTRAHL fiel schräg durch die Bäume.
    Der Schock ließ ihn erstarren. Er war nicht darauf vorbereitet. Hatte die Matratze verlassen, war langsam durch das dunkle Haus gegangen, noch schlaftrunken, war auf die Steintreppe getreten. Und von der Sonne getroffen worden.
    Wie eine Nadel bohrte sich der Sonnenstrahl in seine Augen. Er schlug die Hände vors Gesicht, aber das Licht drang immer tiefer in ihn ein, bahnte sich einen Weg durch Knorpel und Knochen und erreichte die Dunkelheit der Schädelkuppe. Dort wurde alles grell und weiß. Seine Gedanken jagten in sämtliche Richtungen auseinander, wurden zu Atomen zerfetzt. Er hätte laut aufschreien mögen, aber das tat er nie, das war unter seiner Würde. Deshalb biß er die Zähne zusammen und blieb so ruhig wie möglich auf der Treppe stehen. Etwas passierte mit ihm. Seine Kopfhaut spannte sich, er spürte ein stärker werdendes Prickeln. Er zitterte und behielt die Hände vorm Gesicht. Er merkte, daß seine Augen zur Seite gezogen, daß seine
    Nasenlöcher geweitet und groß wie Schlüssellöcher wurden. Er wimmerte leise, wollte sich wehren, konnte die gewaltigen Kräfte aber nicht aufhalten. Langsam wurden seine
    Gesichtszüge ausgewischt. Am Ende blieb nur noch ein nackter Schädel, überzogen mit weißer, durchsichtiger Haut.
    Er kämpfte fieberhaft, er stöhnte leise, er versuchte, sein Gesicht zu berühren, sich zu vergewissern, daß es noch
    vorhanden war. Seine Nase war widerlich weich. Er ließ die Hände sinken. Hatte das wenige zerstört, was er noch gehabt hatte, spürte deutlich, daß die Nase verrutschte und wie eine faule Pflaume ihre Form verlor.
    Und dann war es plötzlich vorbei. Er holte vorsichtig Luft, merkte, wie sein Gesicht sich wieder zusammenfügte. Er
    zwinkerte einige Male heftig, öffnete und schloß den Mund, doch als er wieder ins Haus gehen wollte, verspürte er einen Stich in der Brust. Wie von den scharfen Krallen eines unsichtbaren Untiers. Er krümmte sich, schlang die Arme um seinen Leib, um sich der Kraft zu widersetzen, die an der Haut auf seiner Brust zog. Seine Brustwarzen verschwanden in den Achselhöhlen. Die Haut seines nackten Oberkörpers wurde dünner, die Adern standen wie knotige Kabel hervor, pulsierend von schwarzem Blut. Er krümmte sich noch mehr zusammen und spürte, daß es jetzt kam, daß er es nicht würde zurückhalten können.
    Er barst wie ein Troll in der Sonne. Eingeweide und Gedärm quollen hervor. Er versuchte, alles bei sich zu behalten, er packte die Wundränder und preßte sie zusammen, aber seine Innereien quollen und sickerten zwischen seinen Fingern hindurch und fielen ihm wie Schlachterabfälle vor die Füße. Sein Herz schlug noch, eingesperrt hinter den Rippen, verängstigte, hämmernde Schläge. Lange verharrte er in dieser Haltung, verkrümmt und schluchzend. Seine Bauchhöhle war leer. Er öffnete ein Auge und blickte ängstlich an sich herunter. Er lief nicht mehr aus. Unbeholfen sammelte er seine Innereien auf und stopfte sie achtlos in sich hinein, während er mit der anderen Hand die Haut so hielt, daß nicht alles sofort wieder hinausgleiten konnte. Nichts landete am richtigen Ort, sein Bauch beulte sich an den seltsamsten Stellen aus, aber wenn er die Wunde schließen könnte, würde niemand etwas sehen. Er wußte, daß er nicht so beschaffen war wie andere, aber von außen merkte man das nicht. Während er mit der linken Hand die Haut krampfhaft festhielt, drückte er mit der rechten. Am Ende war fast alles wieder in seinem Bauch verstaut. Nur verschmierte Blutflecken waren noch auf der Treppe zu sehen. Er preßte die Wunde fest zusammen und merkte, wie sie sich schloß. Er atmete ganz flach, die Wunde sollte schließlich nicht wieder aufgehen. Noch immer stand er stocksteif auf der Treppe. Noch immer drang der weiße Sonnenstrahl, scharf wie ein Schwert, durch den Wald. Aber ihm ging es wieder gut. Es war nur alles so schnell gegangen. Er hätte nicht vom Bett aus gleich in die Sonne treten dürfen. Er hatte sich immer schon in einem anderen Raum bewegt und die Welt durch einen dunklen Schleier gesehen, der dem Licht und den Geräuschen draußen ihre Schärfe nahm. Den Schleier hielt er durch tiefe Konzentration an Ort und Stelle. Doch diesmal hatte er vorschnell gehandelt. War einfach in den neuen Tag hineingerannt, ohne zu überlegen, wie ein Kind.
    Die Strafe erschien ihm übertrieben hart. Denn ein Traum hatte ihn aus seinem Schlaf auf der fauligen Matratze
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