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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen
Autoren: Ralf Isau
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Landsleute, die sich darauf zu teilen begann wie einst das Rote Meer vor Moses. Höflich sagte er: »Bitte, Professor, meine Mitarbeiter und ich verstehen das nicht ganz. Es ist doch nur ein Apfel da.«
    »Was?«, keuchte Stangerl. Er schob sich an dem Delegationsleiter vorbei in die Gasse, die man ihm zuvorkommend offen hielt, und nun erst sah er es mit eigenen Augen.
    Das Paradies war verschwunden.
    Gestohlen! Stangerls erster Gedanke kam nicht von ungefähr. Die Medienberichte vom Einbruch in der Tate Modern vor einer Woche hatten wohl jeden Museumsdirektor erschüttert. Und erst der Bombenanschlag auf den Louvre sieben Tage davor! Grauenhaft. Obwohl er sich dafür verfluchte – wer würde schon Geld in ein Museum pumpen, das sich auf so dreiste Weise bestehlen ließ –, konnte er beim Anblick des Gegenstandes auf dem Holzfußboden nicht ruhig bleiben. Menschenleben gingen vor. Seine Stimme zitterte, als er sich an den Delegationsleiter wandte.
    »Dr. Nakamura, I hre Leute müssen umgehend den Raum verlassen. Aber bitte geordnet!«
    »Stimmt etwas nicht, Professor?« Offenbar hatte Nakamura noch nicht begriffen, was geschehen war. Leihgaben an andere Museen, Restaurierungsarbeiten – es gab viele Gründe, warum ein Bild in einer Ausstellung fehlen mochte.
    »Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, antwortete der Direktor tonlos. Er wollte eine Panik unter den Besuchern vermeiden. Sein Blick lag auf der vom Dieb zurückgelassenen »Visitenkarte«. Anscheinend hatte ihre Form nur in ihm diese schreckliche Assoziationen heraufbeschworen.
    Der rotgoldene Apfel am Boden sah aus wie eine Bombe.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Nakamura.
    Stangerl lächelte. Es war nur Mimikry.

 
    Kapitel 1
     
     
     
    »Um manche Delikte zu begreifen, genügt es, die Opfer zu kennen.«
    Oscar Wilde
     
     
     
    OXFORD (ENGLAND),
    Dienstag, 25. September, 19.00 Uhr
     
    Selten hatte ein Mensch so viele Widersprüche in sich vereint wie Alex Daniels. Allein das Erzählen ihrer Geschichte ist ein großes Wagnis, nicht nur für den, der sie nieder schreibt. Daher gebietet die Fairness, auf die möglichen Auswirkungen der Lektüre hinzuweisen.
    Es ist keinesfalls die Materie – Papier, Druckerschwärze, Kleister und Heftfäden –, von der die Gefahr ausgeht, obgleich im Allgemeinen die Übereinkunft herrscht, nur das Materielle sei wirklich und wahr. Dieses Buch beweist, so befremdend es klingen mag, das Gegenteil.
    Seine Atome sind lediglich Vehikel. Sie halten die Worte fest, machen sie dem Leser zugänglich. Ebenso könnte die Erzählung auf einem Computerchip oder in den grauen Zellen eines Gedächtnisakrobaten gespeichert sein. Die Materie ist austauschbar, ohne Belang. Unsere Geschichte dagegen – ihre Bedeutung – ist immateriell. Geistig.
    Nicht jeder will ein Buch lesen, das seine Gedanken zu ändern vermag. Dies ist daher ein guter Zeitpunkt, es zuzuschlagen und wieder ins Regal zurückzustellen. Sicher ist sicher.
    Andererseits kann nur, wer sich weit ins Unbekannte hinauswagt, das Neue entdecken.
     
     
    Die Wissenschaftsjournalistin Alex Daniels war also, um den Faden wieder aufzunehmen, ein Mensch der Gegensätze. Einige beschrieben sie als unnahbar, verletzlich, introvertiert, andere charakterisierten sie eher als angriffslustig, starrköpfig und exzentrisch. Für ihre mit spitzer Feder geschriebenen Artikel wurde sie gehasst und bewundert.
    Je nach Lager deutete man ihren Namen auf unterschiedliche Weise: Alex, griechische Kurzform von Alexandros, stand, frei übersetzt, für »Männerabwehrer«, aber auch für »Beschützer« und »Verteidiger«. Ihre Gegner – zumeist Angehörige des männlichen Geschlechts – bevorzugten das Bild der Amazone, hinter deren kühler Schönheit sich eine gefährliche Kämpferin für obskure Ideen verbarg. Doch es gab auch andere, die in ihr eine Verteidigerin der Wahrheit sahen. Diese Gleichgesinnten hatten ihrer »Stimme« Alex Daniels schon mehrmals Mäßigung ans Herz gelegt, um unnötige Schwierigkeiten zu vermeiden. Leider ohne nennenswerten Erfolg. Zu ihrem widersprüchlichen Naturell gehörte neben Gedankentiefe und einem brillanten Verstand auch die Vorstellung, das Universum aus den Angeln heben zu können – für eine Fünfundzwanzigjährige nichts Ungewöhnliches.
    So unerbittlich Alex in der Sache sein konnte, so dünnhäutig war sie in persönlichen Angelegenheiten. Zwischenmenschliche Kontakte beschränkte sie auf ein Minimum. Wenn die Recherchen an einem Artikel
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