Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbe der Azteken

Das Erbe der Azteken

Titel: Das Erbe der Azteken
Autoren: Clive Cussler
Vom Netzwerk:
Prolog
London, England, 1864
    Der Mann, den alle nur als Jotun kannten, schritt zielstrebig durch den morgendlichen Nebel, den Kragen seiner Kapitänsjacke hochgeschlagen und einen Schal locker um Hals und Mund geschlungen. Sein Atem bildete eine weiße Wolke in der kalten Luft.
    Plötzlich blieb er stehen und lauschte. Hatte er Schritte gehört? Er drehte den Kopf erst nach links, dann nach rechts. Irgendwo vor ihm erklang ein gedämpftes Klicken. Ein Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster. Obwohl schwer und hochgewachsen, zog sich Jotun schnell und leichtfüßig in den Schatten eines gewölbten Toreingangs zurück. In der Tasche seiner Jacke schloss sich seine Faust um den Griff eines mit Bleischrot gefüllten Totschlägers aus Leder. Die Seitenstraßen und Gassen von Tilbury waren niemals ein freundlicher Ort und erst recht nicht zwischen Sonnenuntergang und -aufgang.
    »Verdammte Stadt«, knurrte Jotun. »Dunkel, feucht, kalt. Lieber Gott, hilf.«
    Ihm fehlte seine Frau, ihm fehlte sein Land. Aber hier wurde er gebraucht, jedenfalls meinten das jene, die ganz oben saßen. Er vertraute natürlich ihrem Urteil, doch es gab Zeiten, da hätte er seinen augenblicklichen Dienst bereitwillig gegen ein offenes Schlachtfeld eingetauscht. Dort würde er seinen Gegner wenigstens sehen und kennen – und wüsste, was er mit ihm zu tun hätte: Er würde ihn töten oder selbst getötet werden. Ganz einfach. Andererseits gefiel seiner Frau, obgleich weit entfernt von ihr, sein augenblicklicher Einsatzort viel besser als seine früheren. »Lieber in der Ferne und am Leben als in der Nähe und tot«, hatte sie zu ihm gesagt, nachdem er seine Befehle erhalten hatte.
    Jotun wartete einige Minuten, hörte jedoch keine weiteren Geräusche. Er sah auf seine Uhr: halb vier. In einer Stunde würde es auf den Straßen lebendig werden. Wenn sich sein Jagdwild aus dem Staub machen wollte, dann müsste es vorher geschehen.
    Er kehrte auf die Straße zurück und ging weiter nach Norden, bis er zur Malta Road kam und die Richtung nach Süden zu den Docks einschlug. In der Ferne konnte er das einsame Scheppern einer Boje hören, außerdem drang ihm der Gestank der Themse in die Nase. Ein Stück voraus, im Nebel, konnte er eine einsame Gestalt erkennen. Sie stand am südöstlichen Ende der Dock Road und rauchte eine Zigarette. Auf Katzenpfoten überquerte Jotun die Straße und ging weiter, bis er die Straßenecke deutlicher ausmachen konnte. Der Mann war tatsächlich allein. Jotun zog sich in die Gasse zurück, dann stieß er einen einzigen leisen Pfiff aus. Der Mann wandte sich um. Jotun zündete mit dem Daumennagel ein Streichholz an, ließ es kurz auflodern und löschte die Flamme sofort wieder mit Daumen und Zeigefinger. Der Mann kam auf Jotun zu.
    »Guten Morgen, Sir.«
    »Darüber lässt sich streiten, Fancy.«
    »Das stimmt, Sir.« Fancy ließ den Blick über die Straße schweifen.
    »Nervös?«, fragte Jotun.
    »Was, ich? Weshalb sollte ich nervös sein? Ein kleiner Mann wie ich, der bei Nacht durch diese Gassen schleicht? Was könnte daran nicht in Ordnung sein?«
    »Dann lass mal hören.«
    »Es ist dort, Sir. Vertäut am Pier, und das schon seit vier Tagen. Allerdings nur noch mit je einer Leine an Heck und Bug. Ich habe mit einem Kumpel gesprochen, der unten im Hafen gelegentlich Handlangerdienste übernimmt. Es heißt, das Schiff werde flussaufwärts fahren.«
    »Wohin?«
    »Zu den Millwall Docks.«
    »Die Millwall Docks sind noch nicht fertig, Fancy. Warum belügst du mich?«
    »Nein, Sir, das ist das, was ich gehört habe. Millwall. Am späten Morgen.«
    »Ich hab schon jemanden in Millwall, Fancy. Er sagt, der Hafen sei für mindestens eine weitere Woche geschlossen.«
    »Tut mir leid, Sir.«
    Jotun hörte das typische Scharren von Leder auf Stein hinter sich in der Gasse und begriff sofort, dass Fancy etwas ganz anderes leidtat. Jotun tröstete sich ein wenig mit dem Wissen, dass ihn dieses kleine Wiesel von einem Mann wahrscheinlich nicht aus Tücke, sondern eher aus Habgier verraten hatte.
    »Nimm die Beine in die Hand, Fancy. Renn weit weg. Ganz aus London raus. Wenn ich dich noch einmal sehe, schlitz ich dir den Bauch auf und stopf dir deine eigenen Eingeweide ins Maul.«
    »Sie werden mich nie wiedersehen, Sir.«
    »Das wäre auch besser, wenn dir dein Leben lieb ist.«
    »Noch einmal, es tut mir leid. Ich habe Sie immer …«
    »Noch ein Wort, und es wird dein letztes sein. Geh.«
    Fancy rannte los und verschwand im Nebel.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher