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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus
Autoren: Eric Berg
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    Drei Tote und ein Komapatient, das war die Bilanz der »Blutnacht von Hiddensee«, die die Ostseeinsel zwei Jahre zuvor erschüttert hatte. Die Meldung vom Amoklauf hatte es bis in die Tagesschau geschafft, kurz vorm Sport, außerdem hatte eine Boulevardzeitung in großer Aufmachung berichtet und den Begriff der Blutnacht geprägt. Schwarzweißfotos in Passbildmanier, die auf Seite eins ein Schattendasein zwischen balkenhaften Buchstaben fristeten. Auf Seite zwei dann Betroffenheit, Überlebende, Angehörige, Nachbarn im Schock. Ganz unten ein wenig Zorn: die Frage nach dem Warum und der Schuld. Wer hat geschlampt, versagt? Nach den Beerdigungen war es wieder still um die Morde geworden, vor allem deshalb, weil es nie zu einem Prozess gekommen war. Denn ausgerechnet der mutmaßliche Täter lag noch immer im Koma und mit ihm der Fall.
    Anlässlich des Jahrestages der Tragödie wollte eine norddeutsche Regionalzeitung eine Doppelseite über den Amoklauf füllen. Natürlich riefen sie eine Expertin für solche Artikel an: Doro Kagel, mich.
    Meine Finger huschten in geübter Manier über die Tastatur.
    Neuendorf auf Hiddensee vor zwei Jahren, am 2. September 2010: Zwei Frauen und ein Mann treffen im Haus Nummer 37 ein. Zu Besuch kommen Yasmin Germinal (35), Gelegenheitsarbeitslose, Leonie Korn (38), Erzieherin, und Timo Stadtmüller (33), Autor. Sie folgten der Einladung des Architekten Philipp Lothringer (45) und seiner Frau Genoveva Nachtmann (43), ein verlängertes Wochenende von Freitag bis Montag bei ihnen und ihrer fünfjährigen Tochter Clarissa zu verbringen. Die in Kambodscha gebürtige Haushälterin, Frau Nian Nan (67), ging fast täglich in der Nummer 37 ein und aus. Wie sie waren auch ihr Mann Viseth und ihr Sohn Yim in die Ereignisse verwickelt, die in der Nacht vom 5. auf den 6. September stattfanden …
    Ich seufzte und löschte den Text. Das war bereits mein dritter, aber immer noch schlechter Anfang für den Artikel, denn diesmal hatte ich es geschafft, den Leser mit neun Namen auf elf Zeilen zu verwirren.
    Auf der Suche nach einem neuen Anfang saß ich wie so oft inmitten meines Schlafzimmers, das auch mein Arbeitszimmer war, vor der Maschine, in deren großes Auge ich unentwegt starrte, nicht selten elf oder zwölf Stunden am Tag. Stunden, die ich damit zubrachte, andere Artikel als diesen zu schreiben und doch irgendwie immer dieselben: Artikel über tödlich verlaufende U-Bahn-Schlägereien, Vergewaltigungen, Ehrenmorde, Prostituiertenmorde, Morde der Russenmafia, Berichte über den täglichen Wahnsinn, der in den Gerichtssälen der Hauptstadt und des weiteren Umlands angeschwemmt wurde wie ausgelaufenes Schweröl, das einem den Atem nahm.
    Das Verbrechen ist mein Spezialgebiet, ich habe mich nicht darum gerissen, es hat sich einfach so ergeben. Das ist die eine Version. Die andere ist, dass der Tod meines elfjährigen Bruders Benny – ich war damals neun Jahre alt – etwas damit zu tun hat. Er wurde von einem Mann mittleren Alters im Wald stranguliert und in einen Weiher geworfen, man fand ihn erst nach vier Tagen, den Mörder zwei Tage später.
    Ganz ehrlich, ich weiß nicht, welche Version zutrifft. Tatsache ist: Ein Artikel von mir über junge Männer, die in einem Berliner Park ihre Kampfhunde gegeneinander aufhetzten und Wetten auf sie abschlossen, hat vor einigen Jahren bei einer Redakteurin für Begeisterung gesorgt und den Anfang gemacht. Ab da hat man mich immer öfter mit blutigen Themen beauftragt, haben mich immer mehr Zeitungen zu immer spektakuläreren Prozessen geschickt: häusliche Gewalt, Brandstiftung, Kindesentführung, gemeine Väter, rücksichtslose Jugendbanden … Bis ich schließlich eines Tages die oberste Stufe in der Hierarchie der Strafprozessordnung erklommen hatte. Seither schreibe ich über Morde und Mörder. Einerseits ist es gut, dass mehr und mehr Zeitungen und Zeitschriften den Namen Doro Kagel mit einem bestimmten Thema verbinden, selbst wenn dieses Thema die größte menschliche Tragödie umfasst, nämlich die menschliche Unfähigkeit, mit dem Töten aufzuhören. Andererseits mischen sich bei diesem Thema – auch bei mir – Faszination mit Abscheu, wirkt Anziehung gegen Abstoßung, und an manchen Tagen hätte ich lieber über die Bundesgartenschau geschrieben als über die Abgründe der Seele.
    Hiddensee ist das Friedlichste, was man sich vorstellen kann. Nur mit der Fähre erreichbar, umgeben vom Meer, von Heidekraut bewachsen und einem Wind
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