Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
irdischen Organismen treten sie jedoch nur in der L-Form, also »linksdrehend« oder »linkshändig« auf. So gereinigt und isoliert, seien mit den Molekülen Folgeexperimente zur Herstellung von DNA-Grundbausteinen durchgeführt worden, und diese habe man medienwirksam als »Beweis für die Entstehung von Leben« präsentiert. Alex resümierte in ihrem Artikel, der geballte Einsatz von Know-how bei den Simulationen sei wohl eher ein Beweis für Intelligent Design als für die schöpferische Macht des Zufalls. Nach wie vor komme niemand um den Grundsatz herum, den Louis Pasteur mit den schlichten Worten formulierte: Omne vivum e vivo – »Alles Leben entsteht von Leben«.
    Zuletzt fragte sie, warum die Vertreter einer angeblich bewiesenen Lehre nicht einfach einige der so zahlreich vorhandenen Fakten erläuterten, anstatt sich immer wieder betrügerischer Mittel zu bedienen, um ihren Ursprungshypothesen den Nimbus von Glaubwürdigkeit aufzusetzen. Sei es nicht endlich an der Zeit, die Vogelscheuche der Evolutionstheorie mit fundierten Tatsachen zu beleben, anstatt ihr falsche Pelze anzuziehen? Sollte der Piltdown-Mensch nicht als Warnung betrachtet werden, anstatt sich von ihm zu immer raffinierteren Fälschungen anspornen zu lassen?
    Manchmal konnte Alex’ Rhetorik wie ein Rasiermesser sein – man bemerkte den Schnitt erst, wenn er schon durch die Haut gedrungen war. Aber diesmal hatte sie das schartige Breitschwert benutzt. Den so genannten Piltdown-Menschen in eine Reihe mit den Experimenten zur Synthese von Nukleotid-Bausteinen zu stellen provozierte einen Aufschrei im Lager der Neodarwinisten. Über dieses Ding – einst als Bindeglied zwischen dem Menschen und seinen Vorfahren gefeiert – breitete man am liebsten den Schleier des Schweigens.
    Tatsächlich stellte der Schädel von Piltdown ein dunkles Kapitel der Ursprungsforschung dar. Nachdem er 1912 in der englischen Grafschaft Sussex entdeckt worden war, hatte das Britische Museum für Naturgeschichte vierzig Jahre lang viel Mühe darin investiert, eine gründliche Untersuchung des Funds durch die Skeptiker zu verhindern. Im Jahr 1953 ließ sich die Fälschung nicht länger vertuschen, und seitdem wurde der Piltdown-Fall auf Seiten der Evolutionsverfechter als bedauerliche Ausnahme und als Verirrung übereifriger Darwin-Jünger heruntergespielt. Durch Alex Daniels’ Bezugnahme auf die peinliche Angelegenheit war das Fass nun zum Überlaufen gekommen. Bei Nature, dem britischen Wissenschaftsmagazin schlechthin, stand sie seitdem auf dem Index. Selbst wenn sie dort mit einer Kreuzung aus Elefant und Giraffe in die Redaktion spaziert wäre, hätte man keinen ihrer Beiträge mehr gedruckt.
    Alex versuchte sich wieder auf den Laudator zu konzentrieren. Die Lobrede wurde von Professor Jason C. Lambert gehalten. Er war es auch, der Alex dazu überredet hatte, sich zum Anlass der Preisverleihung in die Öffentlichkeit zu wagen. Lambert gehörte dem Leitungsgremium des benachbarten Green College an und hatte selbst einige viel beachtete Aufsätze veröffentlicht, die den Alleinerklärungsanspruch der Wissenschaft in Frage stellten. In seiner Lehranstalt kümmerte er sich um die seelsorgerische Betreuung der Studenten. Alex verdankte ihm, seit sie vor etwa fünf Jahren zum ersten Mal zu ihm Kontakt aufgenommen hatte, nicht nur Zuspruch, sondern auch wohlmeinende Kritik und manch wertvolles Argument. So hatte sie ihm seine Bitte nicht abschlagen können.
    Im Anschluss an die Übergabe des mit dreitausend Pfund Sterling dotierten Preises musste Alex selbst ans Mikrofon. Artig wartete sie, bis der Applaus abgeebbt war.
    »Mark Twain war der Überzeugung: › Eine gute Rede hat einen guten Anfang und ein gutes Ende – und beide sollten möglichst dicht beieinander liegen. ‹ Ich finde, er war ein kluger Mann, und will seinen Rat gerne beherzigen.« Mit diesen Worten, die ein spontanes Schmunzeln auf die Gesichter der Anwesenden zauberten, begann sie ihre Ansprache. Sie war geradezu vernarrt in solche Zitate, seit sie die menschliche Eigenart entdeckt hatte, einem großen, jedoch fernen Namen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als einer tiefsinnigen, aber allzu greifbaren Denkerin.
    Nachdem sie die Länge von Professor Lamberts Laudatio als »optimal« gelobt hatte, bedankte sie sich für die »außergewöhnliche und völlig unerwartete Ehrung«. Ihre Stimme war nach Ansicht einiger warm und etwas rau, andere dagegen hielten sie für zu tief. Alex selbst hatte sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher