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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen
Autoren: Ralf Isau
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das Bild der Toten und stellte sich vor, es wäre das ihrige. Dazu bedurfte es keines Fünkchens Fantasie. Wieder spürte sie den Schauer, der ihr schon beim ersten Mal über den Rücken gefahren war. Die Übereinstimmung war verblüffend. Ihr eigenes Passfoto hätte ihr nicht ähnlicher sehen können.
    Es war eine überraschende Begegnung mit der unerforschten Seite ihres Ichs.
    Vo r J ahren – sie durchlitt gerade die Folter der Pubertät – war sie dahinter gekommen, dass ihre Eltern sie nur adoptiert hatten. Die Entdeckung war ein Schock gewesen, durch den sie sich noch weiter von dem Menschen entfremdet hatte, der ihr eigentlich am nächsten stand: Alex Daniels. Wer war sie wirklich? Wie lautete ihr wahrer Name? Gab es irgendwo Geschwister? Viele ihrer kindlichen Sehnsüchte hatten sich um den Wunsch nach einer Schwester oder einem Bruder gedreht. Wer waren ihre richtigen Eltern? Warum hatten sie ihr Kind fortgegeben? Etwa weil es nicht wie die anderen war? Weil…?
    »In das Gesicht einer perfekten Doppelgängerin zu blicken kann einen ziemlich zu schaffen machen, was?«
    Alex spürte Susans Hand auf ihrem Arm und riss sich von dem Foto los. Sie nickte, brachte sogar ein wackeliges Lächeln zustande. »Das kannst du laut sagen. Wenigstens ist mir jetzt klar, warum du mich unbedingt sprechen wolltest. Entschuldige, dass ich dich nicht zurückgerufen habe.«
    »Schon in Ordnung. Bin ich ja von dir gewohnt. Woran arbeitest du gerade? «
    »An einem Buch.«
    »Echt? Worum geht’s?«
    »Um die Frage, ob unsere Gedanken tatsächlich frei sind. Seit ich mich mit der Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der Evolution und des intelligenten Designs beschäftige, stoße ich immer wieder auf erstaunliche Beispiele menschlichen Verdrängungsvermögens.«
    »Du meinst das Den-Wald-vor-Bäumen-nicht-sehen-Syndrom? «
    »Ja. Du hältst es nicht für möglich, mit wie vielen Leuten ich gemailt habe, die allen Ernstes glauben, unsere Welt sei in sechs Vierundzwanzig-Stunden-Tagen erschaffen worden.«
    »Du meinst die Kreationisten. Ich dachte, du seist auf ihrer Seite.«
    Alex schüttelte den Kopf. »Mich konnte dieser Unsinn nie überzeugen. Aber deine Reaktion beweist, wie wirkungsvoll die Propaganda der Neodarwinisten ist. Sie benutzen gerne die haarsträubendsten Auswüchse des Kreationismus, um damit Vorurteile gegen sämtliche Gegner ihrer Lehre zu schüren. Dabei sind etliche Kritiker der Evolutionstheorie nicht mal religiös.«
    »Verstehe. Na, mir ist es ziemlich egal, wer am Ende Recht behält.«
    »Es tut mir weh, wenn meine beste Freundin so einen Schwachsinn redet. Solange nicht bewiesen ist, wie der blinde Uhrmacher namens Zufall all die komplexen Abläufe im Universum hat entstehen lassen, will ich mich auch keiner Philosophie anvertrauen, die das Überleben des Tüchtigsten zum alleinigen Prinzip erhebt. Wer ernsthaft daran glaubt, dass in der Natur nur der Stärkere vorankommt, wird schwerlich vernünftige Gründe dafür anführen können, warum diese Regel im menschlichen Miteinander nicht gelten soll. Ich meine, wir haben in den letzten beiden Jahrhunderten genug Auswüchse solchen Denkens erlebt. Deshalb schreibe ich das Buch.«
    Die Reporterin grinste. »Hört, hört. Die Anwältin der vergessenen Geschöpfe Gottes hat gesprochen.«
    »Ich meine es ernst, Susan.«
    »Das weiß ich, Schatz. Deswegen sehen so viele in dir auch eine Gefahr, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen…«
    Laute Stimmen am Eingang des Saales ließen Susan verstummen. Die beiden Freundinnen blickten zur Tür.
    Durch den Mittelgang zwischen den Stühlen näherte sich ein Hüne im Regenmantel. Der Mann war dunkelhäutig, um die fünfzig, hatte kurzes, krauses Haar und bewegte sich wie ein Boxer auf dem Weg zum Ring. Dicht hinter ihm folgten zwei uniformierte Polizisten. Der breitschultrige Schwarze blieb vor der Bühne stehen. Sein Schnauzbart und die dichten Augenbrauen verliehen ihm eine Aura von Gemütlichkeit, die allerdings durch den grimmigen Ausdruck in seinem Gesicht gründlich ruiniert wurde.
    »Ms Alexandra Daniels?«, wandte er sich mit tiefem Bass an die Preisträgerin.
    Die Angesprochene erhob sich und trat zum Rand des Podiums vor. »Da muss eine Verwechslung vorliegen. Mein Name ist Alex Daniels. Einfach nur Alex. Und wer sind Sie?«
    Der Gefragte griff in die Brusttasche des Mantels, zog eine abgeschabte schwarze Brieftasche hervor und ließ sie unter Alex’ Augen aufklappen. Hinter einem Sichtfenster aus
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