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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen
Autoren: Ralf Isau
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Nachtwächter stöhnte und machte sich wieder an den Abstieg. Jeder Schritt tat ihm weh. In seinem Gedärm schien ein wildes Tier eingesperrt zu sein, das knurrte und stieß und manchmal sogar biss. Normalerweise hatte er seinen Reizdarm gut im Griff, aber in dieser Nacht…
    Als Demis die letzten Stufen zum Erdgeschoss überwand, stockte er abermals. Die zweiflügelige Tür zur Solle des Caryatides stand offen, zweifellos wieder eine Schludrigkeit der Kollegen von der Tagschicht. Wie oft hatte er sich schon darüber beschwert! Das Licht vom Treppenhaus fiel auf den roten und weißen Marmorboden des Saals, der seinen Namen den vier weiblichen Säulenstatuen verdankte, die hier beim Nordeingang einen Balkon auf ihren Köpfen trugen. Die Halle selbst war stockfinster. Normalerweise brannte in den Ausstellungsräumen auch nachts immer eine »Sparflamme«, so nannte Demis das reduzierte, rote Servicelicht, das die Leuchten dicht über dem Boden verströmten. Es diente dem Schutz der kostbaren Gemälde, deren Farben so weniger schnell ausbleichten. Die Überwachungskameras, die um diese Zeit bestenfalls verwaschene Schemen zeigten, dienten hauptsächlich zur Abschreckung bei Tage für jene Museumsbesucher, die das Wort »Begreifen« ohne das Gefühl ständiger Überwachung leicht allzu wörtlich nahmen. Ohnehin war das Museum viel zu riesig und die Sicherheitstruppe bei weitem zu klein, um sämtliche Räume und Winkel einer ständigen Videoüberwachung zu unterziehen. Solange die Bewegungsmelder nicht ausgewählte Sektionen auf die Bildschirme schalteten, warteten die Kameras im Standby-Betrieb. So lange sie mit Elektrizität versorgt wurden.
    Demis führte das Funkgerät zum Mund, um seine Beobachtung der Zentrale zu melden. Vielleicht war jetzt der Strom im ganzen Sully-Flügel ausgefallen.
    Ehe er die Ruftaste drücken konnte, hörte er ein Geräusch. War das ein Flüstern gewesen? Er schloss die Augen und lauschte. Nichts. Völlige Stille – abgesehen vom Rumoren aus den Tiefen seines Verdauungstrakts. Demis schüttelte den Kopf. Bestimmt hatte er sich geirrt. Jetzt ließ er sich schon vom eigenen Dickdarm narren.
    Sekundenlang stand er auf der Treppe, das Walkie-Talkie vor dem Mund. Obwohl die Anweisungen für solche Fälle eindeutig waren, zauderte Demis. Er konnte sich noch lebhaft an seinen letzten Fehlalarm erinnern. Damals war das Flüstern aus der Etruskischen Abteilung gekommen. Ein Besucher hatte seinen eingeschalteten Walkman samt Kopfhörern unter einer Bank liegen lassen. Die Polizei war in Mannschaftswagen angerückt und Donatien von der Museumsleitung abgemahnt worden. Man hatte ihm einige denkwürdige Dinge zu verstehen gegeben. Er werde allmählich alt und neige offensichtlich zu Fehlern. Die moderne Überwachungstechnik kenne dagegen keine Ermüdungserscheinungen, keine Grippe, keinen Urlaub, sie organisiere sich nicht in Gewerkschaften und habe auch nie einen schlechten Tag. Abschließend hatte der Personalchef dem dienstältesten Nachtwächter des Museums von seiner Hochachtung für dessen langjährigen Dienst erzählt wie auch von der Unmöglichkeit, Frankreichs Nationalschätze einem Träumer anzuvertrauen. Ob M. Demis ihm denn versichern könne, dass es einen Vorfall wie den mit dem Walkman niemals wieder geben werde.
    »Niemals wieder«, wiederholte Demis flüsternd die Worte des jungen Personalleiters. Wie in Zeitlupe ließ er die Hand mit dem Funkgerät sinken. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht, was nicht allein am Gerangel seiner Gedanken lag. Er legte die Hand auf seinen Unterleib und wartete, bis das schmerzhafte Ziehen wieder nachließ. Besser nicht unnötig die Pferde scheu machen, sagte er sich. Einen kurzen Blick in den Saal konnte er riskieren. Armand würde ohnehin gleich hier sein. Der junge Kollege war belastbar. Er hatte seinen ersten Fehlalarm noch vor sich.
    Leise stieg Demis die letzten Stufen zum Erdgeschoss hinab. Dabei zog er seine Halogenlampe aus der Gürteltasche, ließ sie aber ausgeschaltet. Notfalls würde er sie als Keule benutzen können. Das Tragen von Waffen war laut Dienstvorschrift in den Ausstellungsräumen verboten, da solche mehr Schaden anrichten als nützen konnten.
    Demis lugte um einen der beiden Türflügel herum in den lang gestreckten Saal, der sich ungefähr über die halbe Westseite des quadratischen Innenhofs erstreckte. Von den zahlreichen altrömischen Statuen – die meisten waren Kopien griechischer Vorbilder – konnte er nur die
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