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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen
Autoren: Ralf Isau
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nahe gelegenen ausmachen. Hinter der Diana, die mit ihrem Hirsch allein auf der Mittelachse des Raumes stand, verschwamm alles in Dunkelheit. Das durch die Fensterfronten zu beiden Seiten des Saales eindringende Streulicht konnte die Schatten nicht fortspülen, aber es beflügelte die Fantasie des Nachtwächters.
    Hatte sich der kleine Amor auf dem Rücken des Zentauren nicht eben bewegt? Demis hätte schwören können, aus den Augenwinkeln einen huschenden Schatten gesehen zu haben. Er brachte ein verkniffenes Lächeln zu Stande – vermutlich nur ein Vogel, der das von draußen hereinfallende Licht gekreuzt hatte. Demis trat durch die Tür und blieb zwischen den beiden inneren der vier Gewandfiguren stehen, die dem Balkon als Gebälkstütze dienten. Zu seiner Linken lag der Schlafende Hermaphrodit, eine antike Marmorplastik, die von den Museumsbesuchern gewöhnlich mit scheuer Neugier beäugt wurde. Kein Geringerer als Gianlorenzo Bernini, der begnadete Schöpfer der Kolonnaden des vatikanischen Petersplatzes, hatte das mythische Geschöpf auf eine opulente Matratze gebettet. Von hinten sah man den wohl gestalteten Körper einer Frau, die sich so geschickt in ein Laken verwickelt hatte, dass sie praktisch hüllenlos war. Die Überraschung stellte sich ein, sobald man um die Figur herumging, denn ihr Unterleib war in jeder Beziehung männlich.
    Im Karyatidensaal herrschte völlige Stille. Der Nachtwächter trat zwei, drei Schritte weit unter dem Balkon hervor, etwa bis zu dem viereckigen Messinggitter, das ins rot-weiße Rautenmuster des Marmorbodens eingelassen war. Er schüttelte den Kopf. Was immer er gehört hatte, es war wohl wieder einmal eine Ausgeburt seiner überbordenden Fantasie gewesen.
    Einmal mehr verkrampften sich seine Gedärme. Demis kniff die Augen zusammen und krümmte sich. Flach atmend wartete er auf das Nachlassen des Schmerzes. Als das Ziehen allmählich schwächer wurde, richtete er sich wieder auf. Das Beste wäre wohl, sich für den Rest der Nacht frei zu nehmen. Aber zuerst sollte er den Stromausfall melden. Es zu unterlassen könnte ihn bei seinen Vorgesetzten erneut in Misskredit bringen. Er hob das Walkie-Talkie.
    Plötzlich spürte er, wie sein Handgelenk gepackt und wieder nach unten gedrückt wurde. Was darauf folgte, spielte sich in nur wenigen Sekunden ab.
    Flüchtig gewahrte er neben sich eine vermummte Person mit schlanker Statur, die ihn um einen halben Kopf überragte. Sie schob ihr unter einer wollenen Skimaske verborgenes Gesicht dicht an das seine. Ihm stockte das Blut in den Adern, als er durch die Sehschlitze in ein Paar violetter Augen blickte. Sie strahlten förmlich in dem vom Treppenhaus hereinfallenden Licht, was jeden Zweifel über ihre ungewöhnliche Färbung von vornherein ausschloss. Ihr Leuchten war weder grün noch braun oder grau, nicht einmal rot, sondern von einem Ton, der zwischen Purpur und Veilchenblau lag. Der Rest des Einbrechers war schwarz.
    »Du bist zu früh!«, zischte der Gauner in unüberhörbar englisch gefärbtem Französisch. Die Schrecksekunde reichte ihm, um Demis das Funkgerät zu entreißen und es gegen den Steinsockel des Schlafenden Hermaphroditen zu schleudern, wo es in seine Einzelteile zerbrach. Für einen Moment sah Demis am unteren Rand seines Gesichtskreises etwas aufblitzen. Eine Waffe? Schon schnellte die Linke des Vermummten an seine Kehle, krallte sich förmlich hinein, und gleichzeitig wurde ihm ein fester Gegenstand in die Rippen gedrückt. »Hände hoch! Wenn dir dein Leben lieb ist, dann mach keine Dummheiten.«
    Der Nachtwächter gehorchte. Er hatte nicht die Absicht, den Mann zu provozieren. Zwar ließ der Kerl seinen Hals los, machte ansonsten aber immer noch einen gefährlich nervösen Eindruck. Offenbar war die legendäre Pünktlichkeit des Donatien Demis eine feste Größe in seiner Planung gewesen. Jetzt drohte der Bursche durchzudrehen. Nicht anders konnte man seine zischelnden Worte deuten.
    »Musstest du alles durcheinander bringen? Bis eben war’s so gut gelaufen. Was jetzt passiert, hast du dir selbst zuzuschreiben.«
    »Bleiben Sie ruhig«, sagte Demis in beschwörendem Ton. Er wusste, sein Kollege würde jeden Augenblick kommen, und hoffte inständig auf Armands Besonnenheit.
    »Was bilden Sie sich denn ein, wie’s nun weitergeht? Denken Sie, ich stelle mich der Polizei?«
    »Warum nicht? Ich werde sagen, Sie hätten mich anständig…«
    »Schnauze, alter Mann! Sie kapieren nicht das Geringste…«
    Aus dem
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