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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen
Autoren: Ralf Isau
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näherte. Der »Innenwelten«-Saal war den großen Surrealisten des zwanzigsten Jahrhunderts gewidmet: Max Ernst, Rene Magritte, Yves Tanguy und natürlich Salvador Dali. Hier hingen materialisierte Träume an den Wänden. Bilder aus umgestülpten Seelen.
    Blueberry widerstand dem Drang, schneller zu laufen, um endlich in seinen Lieblingsraum einzutauchen. Gemessenen Schrittes durchquerte er den »Natur-in-Aktion«-Saal. Den ausgestellten Kunstwerken schenkte er wenig Beachtung. Ihm ging es um den Gesamteindruck. Alles musste perfekt sein. Es gab einige Dinge, die er unausstehlich fand: defekte Lampen, Schmierereien aller Art, am Boden klebende Kaugummis – seinen scharfen Augen entging nichts, das den Kunstgenuss der Krematoriumsbesucher trüben konnte. Zufrieden durchschritt er das Portal zu den »Innenwelten«, warf Dalis Hummertelefon einen verklärten Blick zu und blieb wie angenagelt stehen.
    Der Schläfer war weg.
    Wie ein blindes Zyklopenauge starrte ihn der leere Rahmen an, in dem gestern noch Le dormeur téméraire geschlummert hatte, › Der unachtsame Schläfer ‹ , eines der berühmtesten Gemälde des belgischen Surrealisten Rene Magritte.
    Blueberry war fassungslos. Warum hatte es keinen Alarm gegeben? Sein Blick wanderte zum Boden. Unter dem Rahmen lag etwas, das dort nicht hingehörte. Staubig. Anscheinend achtlos fallen gelassen. Es sah aus wie…
    Der Kustos näherte sich benommen dem leeren Rahmen, um die merkwürdige Entdeckung genauer in Augenschein zu nehmen. Natürlich wusste er, dass die Spurensicherung der Polizei es als Todsünde betrachtete, wenn ein Unbeteiligter vor ihnen den Tatort betrat, aber seine Füße gehorchten nicht mehr dem Verstand. Wie in Trance folgten sie dem Drängen der Gefühle. Erschüttert starrte er wieder auf den Rahmen. In seiner Vorstellungskraft hing das verschwundene Bild noch da.
    Hundertsechzehn Zentimeter hoch sowie einundachtzig breit, musste es auf die meisten Museumsgäste wie ein Rätsel wirken. Oben sah man eine zum Betrachter offene, hölzerne Kiste, in der eine Gestalt, den kahlen Kopf auf ein weißes Kissen gebettet, unter einer roten Decke schlief. Darunter öffnete sich ein dunkler, wolkiger Himmel. Der Weg in diese düstere Weite war jedoch von einer Tafel mit unregelmäßigen Umrissen versperrt, die an einen Grabstein erinnerte. Wie mit dem Meißel herausgearbeitet, hatte der Künstler darauf sechs kolorierte Symbole von Alltagsgegenständen verteilt: eine Kerze mit gelber Flamme, einen orangeroten Apfel, eine blaue Stoffschleife, eine graue Taube, einen schwarzen Bowler und einen goldgefassten Spiegel.
    Blueberry hatte das Ölgemälde Besuchern oft als Paradebeispiel für den veristischen Surrealismus präsentiert, dessen Aussagen sich im Gegensatz zur symbolhaften Formensprache seiner abstrakten Variante eng an der Wirklichkeit orientierten. Die Einflüsse der modernen Tiefenpsychologie waren für die gesamte Kunstrichtung typisch, und gerade Der unachtsame Schläfer ließ erkennen, wie nahe auch Rene Magritte den Ideen von Sigmund Freud gestanden hatte. Seltsam, grübelte der Kustos, und sein Blick wanderte wieder zur verstaubten »Hinterlassenschaft« des Diebes, die zu seinen Füßen lag. Wieso musste er ausgerechnet in diesem Moment an Magrittes Faible für die Theorien Freuds denken? Sollte er nicht endlich Alarm schlagen?
    Anstatt zum nächsten Telefon zu laufen, bückte sich Peter Blueberry, um den zurückgelassenen Gegenstand aus der Nähe zu betrachten. Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Als sei sie geradewegs aus dem Bild gefallen.«
    Die Medien sollten seinen Eindruck später in alle Welt verbreiten, denn unter dem leeren Rahmen lag am Boden die rote Wolldecke des unachtsamen Schläfers.
     
     
    WIEN (ÖSTERREICH),
    Montag, 24. September, 9.35 Uhr
     
    Das Geklicke war künstlich. Nur Mimikry. So nannte man in der Fauna die Nachahmung der Gestalt oder Farbe eines gefürchteten Tieres zum Zwecke des eigenen Schutzes. Der harmlose Hornissenschwärmer verkleidete sich täuschend echt als Hornisse, um sich seine Feinde mit Gift, das er gar nicht hatte, vom Leibe zu halten. Menschen banden sich eine Rolex ums Handgelenk oder kleideten sich mit sündhaft teurer Designermode, um sich als Angehörige eines höheren Standes auszugeben. Auch eine Form der Mimikry. Und digitale Fotoapparate der Touristenklasse klickten eben, als seien sie teure Spiegelreflexkameras. In gewisser Hinsicht fühlte sich Direktor Hofrat Prof. Dr. Alois Stangerl
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