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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen
Autoren: Ralf Isau
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    Prolog
     
     
     
    »Hermaphrodit
    › [… mythologischer Sohn von Hermes und Aphrodite, welcher mit der Nymphe Salmacis in einem Körper vereint wurde] 1 a: eine abnorme individuelle Besonderheit unter den höheren Wirbeltieren mit sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechtsorganen – auch Androgynie genannt … 2: eine Kombination verschiedenartiger Elemente… ‹ «
      
    Webster’s Third New International Dictionary
     
     
     
    PARIS (FRANKREICH),
    Sonntag, 9. September, 23.56 Uhr
     
    Diese Nacht unterschied sich für Donatien Demis auf mancherlei Weise von den Tausenden davor. Gewöhnlich verwandelte sich das Museum in de r Stunde des Zwielichts. Es ver schmolz mit den Schatten, glitt übergangslos wie die Dämmerung selbst ins Land der Träume. Während der Puls von Paris außerhalb des alten Königspalastes weiterpochte, wurden hier drinnen aus Bildern Fenster, durch die man flüchtige Blicke in fantastische Reiche erh aschen konnte. Steinfiguren erwachten zum Leben. So zumindest empfand D emis die Zeit der Stille im Musé e du Louvre.
    Unter den Kollegen witzelte man über ihn, wenn er mit ernster Miene von seinen nächtlichen Eindrücken erzählte – dem koketten Blinzeln der Venus von Milo oder dem Hufgeklapper des Zentauren –, aber solche Spöttelei ließ ihn kalt. Seine Kollegen waren Ignoranten. Nette Ignoranten zwar, aber eben doch nur Männer, die zur Nachtschicht in das Museum kamen, um hier zu arbeiten. Demis diente dem Louvre, und das seit nunmehr fast dreißig Jahren. Er verdiente hier nicht einfach seine Brötchen, sondern er hütete die Schätze der Nation. Das Wort »Nachtwächter« hatte er von jeher als Verhöhnung seiner Berufung empfunden. Wozu die Nacht bewachen? Die würde schon niemand stehlen. Nein, er bewachte die unersetzlichen Kunstwerke des Louvre, des ehrwürdigsten Museums von Frankreich, wenn nicht des bedeutendsten der ganzen Welt.
    An diesem Abend hetzte der untersetzte Mittfünfziger jedoch achtlos an den Kunstschätzen vorbei. Selbst das beharrliche Lächeln der Mona Lisa im ersten Stock hatte seine Stimmung nicht aufhellen können. So schnell er konnte, stapfte Demis die Treppe zum Erdgeschoss hinab. Jeder hastige Schritt pumpte Daten in den Computer der Überwachungszentrale. Das einundzwanzigste Jahrhundert sei gepriesen! Über den Zustand seiner Eingeweide wusste die schweineteure Technik nichts. Manchmal sehnte sich Demis nach der guten alten Zeit der Stechuhren, als…
    Sein Funkgerät knackte.
    Er blieb abrupt stehen, fluchte leise, führte dann das Walkie-Talkie zum Mund und drückte die Sprechtaste. »Ja?«
    »Was ist los, Donatien? Erst kommst du nicht vom Fleck, und jetzt sprintest du wie Hermes durch die Säle. Hast du heute Nacht noch eine Verabredun g im Maxim?« Die Stimme von Jer rard Tonnelier, dem Schichtleiter, spritzte förmlich aus dem kleinen Lautsprecher.
    »Die Pastete von Marie muss verdorben gewesen sein.«
    »Soweit ich mich erinnere, hat du drei Pasteten gegessen. Wenn du den Ranzen nicht voll kriegen kannst, ist das noch lange kein Grund, die Hälfte der Kontrollpunkte auszulassen?«
    »Ich mache mir gleich in die Hosen, Chef.«
    »Im Haus gibt’s ungefähr eintausend Klos.«
    »Und die Hälfte davon hab ich auch schon besucht. Aber davon gehen die Kr ä mpfe nicht weg. So schlimm war’s noch nie. Ich brauche dringend meine Tropfen.«
    Ein Moment der Stille trat ein, der nur vom leisen Rauschen des Sprechfunkgerätes und dem Rumoren der Eingeweide seines Trägers gestört wurde. Im Lautsprecher knackte es. »Na schön.
    Ich lass dich ablösen, Donatien, damit du deine Medizin nehmen kannst. Eigentlich melde ich mich, weil dein roter Marker gerade von unserem Überwachungsbildschirm verschwunden ist. Wo treibst du dich rum?«
    »Im Treppenhaus. Komme gerade aus dem ersten Stock des Sully-Flügels nach unten.«
    »Wo genau?«
    »Aufgang 1 .«
    »Das trifft sich gut. Warte im Saal 17 bei den Karyatiden. Rund um die Cour Carré e sind vorhin die Überwachungskameras ausgefallen. War nur ein Flackern, aber es kann nicht schaden, wenn du trotzdem mal nach dem Rechten siehst. Armand wird gleich bei dir sein und deine Runde übernehmen.«
    »Aber bitte schnell, Chef!«
    »Reiß dich zusammen, Mann. Wenn du da oben irgendeine Schweinerei anrichtest, dann bist du derjenige, der sie wieder aufwischt. Habe ich mich klar und verständlich ausgedrückt?«
    »Ja, Chef.«
    Das Gespräch endete, wie es begonnen hatte: mit einem Knacken.
    Der
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