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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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von Nebel und dumpfer Feuchtigkeit zu entkommen. Außerdem war ich knapp dreiundzwanzig und hatte immer noch die schuljungenhafte Leidenschaft für alles, was mit Bahnhöfen und mit Reisen in Eisenbahnwaggons zu tun hatte, die von Dampfloks gezogen wurden.
    Erstaunlich ist jedoch, wie gut ich mich an die kleinste Einzelheit jenes Tages erinnern kann, obwohl wirklich nichts Ungewöhnliches geschehen war und ich nicht hätte entspannter sein können. Schließe ich die Augen, sehe ich mich in der Droschke sitzen, die durch den Nebel zur King’s Cross Station schleicht, ich rieche das klamme Leder der Polsterung und den unbeschreibbaren Geruch des Nebels, der rund um das Fenster hereindringt, ich spüre die Aufregung in meinen Ohren pochen, als hätte ich Watte hineingestopft.
    Lachen schwefelgelben Lichts flammten aus Läden und oberen Hausfenstern, und aus den Souterrains drang es empor wie aus dem Höllenschlund. Rotglühende Punkte ließen die Maroniverkäufer an den Straßenecken erahnen, da und dort stieg von großen blubbernden Teerkesseln der Straßenarbeiter rötlicher, beißender Rauch auf, und vereinzelt flackerte eine von Laternenanzündern hochgehaltene Lampe. Auf den Straßen herrschte wirrer, wenngleich gedämpfter Lärm von scharrenden Bremsen und den Rufen zahlloser Droschkenkutscher, die im Nebel kaum weiterkamen und so gut wie blind waren. Und während ich aus dem Droschkenfenster in die Düsternis spähte, sah ich verschwommene Gestalten mit Schals und Tüchern oder Schleiern um Mund und Nase, die geisterhaft aussahen, und, sobald sie flüchtig durch einen Lichtkreis liefen, rotäugig und dämonisch wirkten. Für die etwa zwei Kilometer von Chambers zum Bahnhof brauchten wir nahezu eine Stunde, und da es absolut nichts gab, was ich hätte tun können, und ich mich auf einen schleppenden Beginn meiner Reise eingestellt hatte, lehnte ich mich zurück, tröstete mich damit, dass dies gewiss der schlimmste Teil sein würde, und ließ mir das Gespräch durch den Kopf gehen, das Mr. Bentley am Vormittag mit mir geführt hatte.
    Ich hatte pflichtbewusst an einigen langweiligen Einzelheiten von Pachtverträgen gearbeitet und dabei vorübergehend den Nebel vergessen, der sich hinter meinem Rücken wie ein Pelztier ans Fenster presste, als Tomes, der Buchhalter, hereinkam und mir ausrichtete, dass Mr. Bentley mich sehen wolle. Tomes war ein kleiner, dünner Mann mit einem Gesicht von der Farbe einer Talgkerze und einem unaufhörlichen Schnupfen, der es unvermeidbar machte, dass er alle zwanzig Sekunden die Nase hochzog. Das war der Grund, weshalb er in eine winzige Kammer an der Eingangshalle verbannt worden war, wo er die Bücher führte und Besucher mit einer Leichenbittermiene empfing, die sie ermahnte, ihr Testament zu machen, egal aus welchem Grund sie ursprünglich zum Anwalt gekommen waren.
    Es war auch ein Testament, das Mr. Bentley vor sich liegen hatte, als ich in sein großes, gemütlich eingerichtetes Büro mit dem breiten Erkerfenster trat, durch das man an schöneren Tagen einen guten Blick auf das Inn of Court und seine Anlagen und damit auf das Kommen und Gehen der Hälfte aller Anwälte von London hatte.
    »Setzen Sie sich, Arthur, setzen Sie sich«, wies Mr. Bentley mich an, nahm seine Brille ab, putzte sie energisch und setzte sie wieder auf, ehe er sich offenbar zufrieden in seinem Sessel zurücklehnte. Mr. Bentley hatte eine Geschichte zu erzählen, und Mr. Bentley genoss es, wenn man ihm aufmerksam zuhörte. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen je von der ungewöhnlichen Mrs. Drablow erzählt habe?«
    Ich schüttelte den Kopf. Was jetzt kam, war auf jeden Fall spannender als die Ausarbeitung von Pachtverträgen.
    »Mrs. Drablow«, wiederholte er und nahm das Testament in die Hand, um es mir, über den Schreibtisch seines Sozius, zuzuschwenken. »Mrs. Alice Drablow von Eel Marsh House. Sie ist gestorben, wissen Sie?«
    »Ah.«
    »Ja, ich habe Alice Drablow von meinem Vater geerbt. Wir sind die Anwälte ihrer Familie seit … oh …« Er winkte mit einer Hand in die Nebel des vergangenen Jahrhunderts zur Gründung von Bentley, Haigh, Sweetman and Bentley.
    »O ja?«
    »Ein hohes Alter.« Wieder schwenkte er das Dokument. »Siebenundachtzig.«
    »Und ich nehme an, es ist ihr Testament, das Sie da haben? Darf ich einen Blick reinwerfen?«
    »Mrs. Drablow«, er hob leicht die Stimme und ignorierte meine Frage, die ihn ein wenig aus dem Erzählen gebracht hatte. »Mrs. Drablow war
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