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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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etwas sonderbar.«
    Ich nickte. In den fünf Jahren, die ich bereits in der Firma war, hatte ich erfahren, dass eine Menge von Mr. Bentleys älteren Klienten »etwas sonderbar« waren.
    »Haben Sie schon mal von dem Nine Lives Causeway, dem sogenannten Neunlebendamm, gehört?«
    »Nein, nie.«
    »Wohl auch nicht von der Aalmarsch, dem Sumpfgebiet?«
    »Nein, Sir.«
    »Waren Sie etwa auch noch nie auf dem Land? In dieser Gegend?«
    »Leider nein, Sir.«
    »Wenn man dort lebt«, sagte Mr. Bentley nachdenklich, »kann man leicht sonderbar werden.«
    »Ich habe nur eine vage Vorstellung, wo es liegt.«
    »Dann gehen Sie nach Hause, mein Junge, packen Sie Ihre Reisetasche, und nehmen Sie den Nachmittagszug von King’s Cross, steigen in Crew um und noch einmal in Homerby. In Homerby müssen Sie den Anschluss nach Crythin Gifford, einer kleinen Ortschaft, erwischen. Und dort heißt es, auf die Ebbe zu warten.«
    »Ebbe?«
    »Man kann den Damm nur bei Ebbe überqueren. Über ihn kommt man zur Aalmarsch und dem Haus.«
    »Mrs. Drablows Haus?«
    »Sobald die Flut einsetzt, sind Sie bis zur nächsten Ebbe völlig abgeschnitten.« Er erhob sich und trat ans Fenster. »Es sind viele Jahre vergangen, seit ich zuletzt dort war. Mein Vater hatte mich mitgenommen, aber sie hat sich nicht besonders für ihre Besucher interessiert.«
    »War sie verwitwet?«
    »Ja, sie verlor ihren Gatten schon früh.«
    »Kinder?«
    »Kinder.« Mr. Bentley rieb über die Scheibe, als könne er so etwas sehen, aber der Nebel schien mittlerweile noch dichter geworden zu sein, gelbgrau hing er vor dem Fenster, allerdings war da und dort aus den Kanzleien gegenüber dem Inn Yard verschwommener Lichtschein zu sehen. Eine Kirchenglocke fing an zu schlagen. Mr. Bentley drehte sich um. »Nach allem, was wir über Mrs. Drablow erfahren haben«, sagte er schließlich bedächtig, »hatte sie keine Kinder.«
    »Besaß sie viel Geld oder Land? Waren ihre Angelegenheiten kompliziert?«
    »Im großen Ganzen nicht, Arthur, nicht im großen Ganzen. Ihr gehörten natürlich das Haus und ein paar Besitztümer in Crythin Gifford, verpachtete Häuser mit Geschäften und Wohnungen und dergleichen, und ein Hof, der halb unter Wasser steht. Sie hat Geld für Deiche da und dort ausgegeben, aber ohne viel Erfolg. Und natürlich sind da die üblichen kleinen Stiftungen und Investitionen.«
    »Das klingt alles recht unkompliziert.«
    »Ja, nicht wahr?«
    »Darf ich fragen, weshalb ich dann dort hinfahren soll?«
    »Um unsere Firma bei der Beerdigung zu vertreten.«
    »O ja, natürlich.«
    »Ich habe schon überlegt, ob ich selbst fahren soll. Aber um ehrlich zu sein, mein Fuß macht mir seit einiger Zeit wieder zu schaffen.«
    Mr. Bentley litt unter Gicht, die er jedoch nie beim Namen nannte, obwohl er sich dieses Leidens nicht hätte zu schämen brauchen, denn er war ein enthaltsamer Mann.
    »Außerdem könnte es sein, dass Lord Boltrope mich konsultieren will. Da sollte ich hier sein, Sie verstehen.«
    »Ja, selbstverständlich.«
    »Und außerdem …«, er machte eine Pause. »Es wird Zeit, dass ich Ihnen etwas mehr zumute. Sie schaffen das doch, oder?«
    »Das hoffe ich. Ich werde natürlich gerne an Mrs. Drablows Beerdigung teilnehmen.«
    »Da ist allerdings noch mehr.«
    »Das Testament?«
    »Es ist noch etwas wegen des Besitzes zu erledigen, ja. Ich gebe Ihnen die Unterlagen, damit Sie sie sich während der Reise anschauen können. Aber der Hauptgrund ist, dass Sie Mrs. Drablows Papiere durchsehen müssten – auch die privaten –, welcher Art und wo immer sie sein mögen …« Mr. Bentley hüstelte. »Und sie hierherbringen.«
    »Ich verstehe.«
    »Mrs. Drablow war etwas … zerstreut, wenn man so sagen kann. Es könnte eine Zeitlang dauern.«
    »Ein oder zwei Tage?«
    »Mindestens ein oder zwei Tage, Arthur. Natürlich könnte sich inzwischen etwas geändert haben und ich mich täuschen. Vielleicht ist alles peinlich genau geordnet, und Sie schaffen es an einem Nachmittag. Wie ich schon sagte, es ist eine Ewigkeit her, seit ich zuletzt dort war.«
    Das Ganze hörte sich allmählich an wie eine Szenerie aus einem viktorianischen Roman: eine einsam lebende, alte Frau mit Unmengen von interessanten Papieren irgendwo in ihrem vollgestopften Haus. Ich nahm Mr. Bentley nicht ganz ernst.
    »Gibt es jemanden, der mir dabei helfen wird?«
    »Der Großteil des Erbes geht an eine Großnichte und einen Großneffen – beide leben seit über vierzig Jahren in
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