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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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Indien. Soviel ich weiß, hatte sie einmal eine Haushälterin … Aber Sie werden mehr erfahren, wenn Sie erst dort sind.«
    »Sie hatte doch wahrscheinlich Freunde oder Nachbarn?«
    »Das Haus liegt fern jeglicher Nachbarn.«
    »Und weil sie etwas sonderbar war, hatte sie wohl auch keine Freunde, nehme ich an?«
    Mr. Bentley lachte unterdrückt. »Kommen Sie, Arthur, sehen Sie doch die gute Seite. Betrachten Sie das Ganze als Ausflug aufs Land.«
    Ich stand auf.
    »Zumindest bringt es Sie für ein oder zwei Tage aus dem hier hinaus.« Er deutete zum Fenster.
    Ich nickte. Tatsächlich hatte ich überhaupt nichts gegen diese Reise. Natürlich verstand ich auch, dass Mr. Bentley nicht hatte widerstehen können, eine gute Story und die geheimnisvolle Mrs. Drablow in ihrem einsamen Haus über die Fakten hinaus zu dramatisieren. Ich vermutete, dass sich das Haus lediglich als kalt und ungemütlich erweisen und schwierig zu erreichen sein würde; dass die Papiere, die ich suchen sollte, unter einem Bett auf dem Speicher in einem staubbedeckten Schuhkarton versteckt waren und es sich um nicht viel mehr als um alte Quittungen und Entwürfe von Beschwerdebriefen an alle möglichen Adressaten handelte – das Übliche eben bei einer solchen Klientin.
    Als ich die Tür erreichte, rief mir Mr. Bentley noch nach: »Sie werden erst spätabends in Crythin Gifford ankommen. Es gibt dort ein kleines Hotel, in dem Sie übernachten können. Die Beerdigung ist morgen um elf.«
    »Und danach soll ich zu dem Haus fahren?«
    »Ich habe alles arrangiert. Ein Dorfbewohner kümmert sich um alles. Er wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«
    »Ja, aber …«
    Gerade in dieser Sekunde erschien Tomes schniefend hinter meiner Schulter.
    »Ihr Klient für halb elf, Mr. Bentley.«
    »Gut, gut, führen Sie ihn zu mir.«
    »Einen Augenblick, Mr. Bentley …«
    »Was ist los, Arthur? Stehen Sie nicht in der Tür herum! Ich habe zu tun!«
    »Gibt es nicht noch mehr, was ich wissen sollte? Ich …«
    Er winkte mich ungeduldig weg. Da kam Tomes auch schon wieder, gefolgt von Mr. Bentleys Klienten. Ich zog mich zurück.
    Ich musste noch meinen Schreibtisch aufräumen, zu meinem Zimmer zurückkehren, um meine Tasche zu packen, meiner Wirtin Bescheid geben, dass ich für ein paar Tage verreiste, und Stella, meiner Verlobten, eine Nachricht zukommen lassen. Ich hoffte, dass ihre Enttäuschung, weil wir uns einige Tage nicht sehen konnten, durch Stolz, dass Mr. Bentley mir einen solchen Auftrag anvertraute, gemildert würde – ein gutes Zeichen für meine Zukunft in der Firma, von der unsere im nächsten Jahr geplante Heirat abhing. Danach sollte ich den Nachmittagszug in einen abgelegenen Winkel Englands nehmen, von dem ich bis vor wenigen Minuten kaum etwas gehört hatte. Als ich auf dem Weg aus dem Gebäude war, klopfte Tomes an das Fenster der Anmeldung und händigte mir einen dicken beigefarbenen Umschlag mit der Aufschrift DRABLOW aus. Ich klemmte ihn mir unter den Arm und eilte hinaus in den dicken Londoner Nebel.

Die Reise nach Norden
    W ie Mr. Bentley gesagt hatte, so groß die Entfernung und so düster der Anlass für meine Reise auch war, bot sie doch die Gelegenheit, dem Londoner Nebel zu entkommen, und allein schon der Anblick des riesigen Bahnhofs, in dessen Halle es wie in einer Schmiede glühte, hob meine Stimmung. Hier herrschte Lärm und Vorfreude auf die bevorstehenden Reisen. Am Kiosk kaufte ich mir ein paar Zeitungen und Zeitschriften und ging dann leichten Schrittes den Bahnsteig neben dem Zug mit der qualmenden Lokomotive entlang, die, wie ich mich erinnere, Sir Bedivere hieß. In einem leeren Abteil ließ ich mich auf dem Eckplatz nieder, legte Hut und Gepäck ins Netz und machte es mir mit einem Gefühl großer Zufriedenheit bequem. Als wir aus London hinausfuhren, hing der Nebel zwar noch über den Vororten, lichtete sich aber bereits stellenweise. Ich hätte am liebsten vor Freude gejauchzt, aber mittlerweile hatten sich zwei weitere Fahrgäste in mein Abteil gesetzt, die mir höflich zunickten und sich dann, genau wie ich, mit ihrer Lektüre beschäftigten. So reisten wir viele ereignislose Kilometer dem Herzen Englands entgegen. Vor den Fenstern wurde es bald dunkel, und nachdem ein Fahrgast die Vorhänge zugezogen hatte, war es gemütlich wie in einem kleinen, von Lampenschein erhellten Herrenzimmer.
    In Crewe stieg ich um, bemerkte, dass der Zug nun Richtung Nordosten fuhr, und gönnte mir ein köstliches
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