Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
Vom Netzwerk:
nicht vorhätte, länger als ein oder zwei Tage zu bleiben. Mr. Daily blickte mich unverblümt an, schwieg jedoch. Um nicht unhöflich zu erscheinen, steckte ich die Karte sorgfältig in meine Westentasche. Erst dann wies er seinen Chauffeur an weiterzufahren.
    »Sie werden alles recht heimelig finden in Crythin«, hatte er im Zug gesagt, und das stimmte. Als ich das prasselnde Feuer im Kamin und den bequemen Polstersessel daneben in der Gaststube sah und in meinem hübsch möblierten Zimmer im oberen Stockwerk ebenfalls ein wärmendes Feuer vorfand, stieg meine Stimmung beachtlich, und ich fühlte mich eher, als wäre ich hierhergekommen, um Urlaub zu machen, als um an einer Beerdigung teilzunehmen und den Nachlass einer Klientin zu ordnen. Der Wind hatte entweder nachgelassen oder war im Schutz der Häuser rund um den Marktplatz nicht zu hören, und die Unbequemlichkeit im Abteil sowie das Unbehagen durch die seltsame Wendung des Gesprächs im Zug schwanden wie ein böser Traum.
    Der Wirt empfahl mir ein Glas Glühwein, den ich vor dem Kamin sitzend genoss und dabei abwesend dem Stimmengemurmel hinter der dicken Tür lauschte, die zur Schankstube führte. Und die Wirtin machte mir allein schon durch das Aufzählen der Gänge des Nachtmahls, das sie mir vorschlug, den Mund wässrig: klare Fleischbrühe, Lendensteak, Apfelkuchen mit Schlagsahne und etwas Stiltonkäse. Während ich auf das Essen wartete, schrieb ich ein paar Zeilen an Stella, die ich am Morgen aufgeben würde, und als ich herzhaft aß, malte ich mir das kleine Häuschen aus, in dem wir nach der Hochzeit leben würden, falls Mr. Bentley mir weiterhin so viel Verantwortung in der Firma übertrug, dass ich es wagen konnte, ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten. Alles in allem und durch die halbe Flasche Rotwein, die zum Essen serviert worden war, empfand ich ein wunderbares Wohlbehagen, als ich aufstand, um mich zu Bett zu begeben.
    »Ich nehme an, Sie sind zur Versteigerung hier, Sir«, sagte der Wirt, der an der Tür wartete, um mir eine gute Nacht zu wünschen.
    »Versteigerung?«
    Er blickte mich überrascht an. »Äh … ich dachte, Sie sind deshalb hierhergekommen. Mehrere Höfe, die südlich von hier liegen, werden versteigert, außerdem ist morgen auch Markttag.«
    »Wo findet die Versteigerung denn statt?«
    »In meinem Haus, Mr. Kipps. In der Schankstube um elf Uhr. Auktionen werden gewöhnlich hier im GIFFORD ARMS veranstaltet. Aber seit vielen Jahren hat es keine so große wie diese mehr gegeben. Darauf folgt das Mittagessen. Wir haben gewöhnlich über vierzig Mittagsgäste an Markttagen, aber morgen werden es bestimmt noch mehr.«
    »Ich bedauere, dass ich mir das entgehen lassen muss, obwohl ich hoffe, mich wenigstens auf dem Markt ein bisschen umsehen zu können.«
    »Ich will nicht neugierig sein, Sir – nur, ich war so sicher, dass Sie wegen der Versteigerung hier sind.«
    »Das ist schon in Ordnung. Aber ich fürchte, morgen um elf habe ich eine weniger angenehme Verpflichtung. Ich bin hier, um an einer Beerdigung teilzunehmen. Der von Mrs. Drablow von Eel Marsh House. Vielleicht kannten Sie sie?«
    Über sein Gesicht huschte – was war es? Schrecken? Misstrauen? Ich wusste es nicht, wohl aber, dass der Name ein starkes Gefühl in ihm ausgelöst hatte, das er sofort zu verbergen suchte.
    »Ich kannte sie vom Hörensagen«, antwortete er ruhig.
    »Ich vertrete ihre Anwaltsfirma. Ich habe sie nie kennengelernt, nur gehört, dass sie sich von allem ziemlich fernhielt.«
    »Was hätte sie auch sonst tun können, da, wo sie wohnte?« Der Wirt drehte sich unvermittelt um und wandte sich in Richtung Schankstube. »Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Sir. Frühstück morgen, wann immer Sie es wünschen.« Dann ließ er mich allein.
    Fast hätte ich ihn zurückgerufen, denn sein Benehmen hatte mich neugierig gemacht, aber auch ein wenig verärgert, und ich hätte gern erfahren, was er genau gemeint hatte. Aber da ich müde war, ließ ich es und tat seine Bemerkung als Andeutung auf irgendwelche dummen, aufgebauschten Geschichten ab, die man sich hier erzählte, wie es in kleinen, abgelegenen Ortschaften üblich ist, wo man Melodramatik und Geheimnisse nur im eigenen engen Kreis suchen kann. Ich muss zugeben, ich besaß damals den Hochmut der Londoner, die sich einbildeten, dass die Provinzler, und vor allem jene in den abgelegenen Winkeln unserer Insel, abergläubischer, leichtgläubiger, einfältiger, unkultivierter und primitiver
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher