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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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seinem ziemlich hässlichen und überladenen Herrenhaus traben ließ. Es kam selten vor, dass ich mich zurücklehnen durfte und nichts tun musste. In London lebte ich nur für meine Arbeit und hatte nur wenig Freizeit, in der ich Aquarelle studierte und sammelte. Ich war damals fünfunddreißig und seit neun Jahren Witwer. Ich hielt nichts von gesellschaftlichen Verpflichtungen und neigte, obwohl ansonsten in guter Verfassung, zu gelegentlichen nervösen Zuständen, die meinen Erlebnissen zuzuschreiben waren, von denen ich noch erzählen werde. Die Wahrheit ist, ich bin früh alt geworden, verknöchert, farblos, freudlos – ein lustloser Langweiler.
    Ich sagte zu Mr. Bentley, wie angenehm und ruhig dieser Tag sei, und nachdem er mir einen verstohlenen Blick zugeworfen hatte, antwortete er: »Sie sollten sich hier vielleicht auch etwas anschaffen. Ein hübsches Cottage. Dort unten zum Beispiel.« Er deutete mit seiner Peitsche auf eine kleine Ortschaft, die sich an eine Biegung des Flusses schmiegte und deren weißgetünchte Häuser in der Nachmittagssonne schliefen. »Fahren Sie übers Wochenende raus aufs Land, machen Sie Spaziergänge, genießen Sie die gute Luft und frische Landeier und Sahne.«
    Auch wenn die Vorstellung ihren Reiz hatte, fand ich, dass sie nicht zu mir passte. So lächelte ich nur, atmete den würzigen Duft der Wiesen ein, sah zu, wie die Pferdehufe Staub aufwirbelten, und dachte nicht weiter darüber nach. Zumindest nicht, bis wir zu einem Weg kamen, der an einem langgestreckten, perfekt gestalteten steinernen Haus auf einer Hügelkuppe vorbeiführte, von dem man eine Aussicht über das ganze Flusstal und kilometerweit bis zur blauen Silhouette der Berge in der Ferne genießen konnte.
    In diesem Augenblick berührte mich etwas, das ich nicht so recht beschreiben kann, ein Gefühl, eine Sehnsucht … nein, es war mehr als das: ein Wissen, eine Gewissheit, die mich erfasste, so klar und deutlich, dass ich unwillkürlich aufschrie und Mr. Bentley bat anzuhalten. Noch bevor wir standen, sprang ich aus der Kalesche und eilte auf einen kleinen grasbewachsenen Hügel, von dem ich zu dem Haus hinaufschaute, das so schön und genau richtig war, dort, wo es stand, ein schlichtes Haus und doch so beeindruckend. Ich ließ meinen Blick über das Land dahinter schweifen. Ich hatte nicht das Gefühl, je zuvor hier gewesen zu sein, war aber der festen Überzeugung, dass ich hierher zurückkommen würde, dass das Haus bereits mein war, unsichtbar an mich gebunden. An einer Seite floss ein Bach vorbei, der sich durch die Wiese dahinter zum Fluss hinabschlängelte.
    Mr. Bentley bedachte mich aus der Kalesche mit einem seltsamen Blick. »Ein schönes Anwesen«, rief er mir zu.
    Ich nickte, aber ich hätte beim besten Willen nicht über die Gefühle, die mich überkamen, sprechen können. So wandte ich ihm den Rücken zu und stieg ein paar Meter den Hang hinauf, bis ich den Eingang zu dem alten, verwahrlosten Obstgarten sehen konnte, der hinter dem Haus lag und am anderen Ende in hohes Gras und wirres Dickicht überging. Dahinter wiederum erspähte ich offenes Brachland. Diese Überzeugung, die ich bereits beschrieben habe, hielt mich fest in ihrem Bann, und ich erinnere mich, dass sie mich erschreckte, denn ich war nie sonderlich phantasievoll gewesen und war schon gar nicht hellseherisch veranlagt. Tatsächlich habe ich seit jenem merkwürdigen Erlebnis bewusst vermieden, über irgendwelche auch nur entfernt übersinnlichen Dinge nachzudenken, und mich an das Sachliche, Sichtbare und Greifbare gehalten.
    Trotzdem war ich unfähig, mich dem Glauben oder eher der vollkommenen Gewissheit zu entziehen, dass dieser Besitz eines Tages mein Zuhause sein, dass ich früher oder später der Eigentümer sein würde. Als ich es schließlich akzeptierte und mir auch eingestand, erfüllte mich ein tiefer innerer Frieden und eine ungeheure Zufriedenheit, wie ich beides seit vielen Jahren nicht mehr gespürt hatte. Mit leichtem Herzen kehrte ich zu der Kalesche zurück, wo Mr. Bentley mehr als neugierig auf mich wartete. Dieses überwältigende Gefühl, das mich bei der Betrachtung von Monk’s Piece erfüllt hatte, blieb mir erhalten, wenngleich nicht mehr so vordergründig, als ich am Nachmittag nach London zurückkehrte. Ich hatte Mr. Bentley gebeten, mich sofort zu benachrichtigen, falls dieser Besitz zum Kauf angeboten würde.
    Einige Jahre später war es so weit. Ich setzte mich noch am selben Tag mit dem Makler in
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