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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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Verbindung, und wenige Stunden später, ohne zuvor noch einmal zu dem Haus zu fahren, erklärte ich mich bereit, den geforderten Preis zu zahlen, und bekam den Zuschlag. Wenige Monate vorher hatte ich Esmé Ainley kennengelernt. Unsere Zuneigung zueinander war stetig gewachsen, aber da immer noch der Fluch der Unentschlossenheit in allen gefühlsmäßigen Dingen auf mir lastete, hatte ich über meine Absichten geschwiegen. Ich war jedoch so vernünftig, den Erwerb von Monk’s Piece als gutes Omen zu werten, und eine Woche, nachdem ich formell der Eigentümer geworden war, reiste ich mit Esmé dorthin und machte ihr unter den Bäumen des Obstgartens einen Heiratsantrag. Auch da war mir das Glück hold. Sie gab mir ihr Jawort. Kurz nach unserer Vermählung zogen wir nach Monk’s Piece, und ich glaubte wirklich, dass ich dem langen Schatten der vergangenen Ereignisse endlich entronnen war, und Mr. Bentleys Miene und der Wärme seines Händedrucks entnahm ich, dass auch er es glaubte und dass ihm eine Last von den Schultern genommen war. Er hatte sich, zumindest teilweise, die Schuld für das gegeben, was mir widerfahren war – immerhin war er es gewesen, der mich nach Crythin Gifford, zum Eel Marsh House und zur Beerdigung von Mrs. Drablow geschickt hatte.

    Doch nichts von alldem hätte – zumindest meinen bewussten – Gedanken ferner liegen können, als ich an diesem Heiligen Abend vor der Tür meines Hauses die kalte Nachtluft einsog. Seit gut vierzehn Jahren war Monk’s Piece ein wahrhaft glückliches Zuhause – für mich, für Esmé und für ihre vier Kinder aus erster Ehe mit Hauptmann Ainley. In der ersten Zeit hatte ich nur an den Wochenenden und Feiertagen heimkommen können, aber das Leben in London und die Geschäfte dort begannen mich bereits von dem Tag an zu verdrießen, als ich den Besitz erstand, und ich war froh, als ich mich bei der ersten Gelegenheit ganz aufs Land zurückziehen konnte.
    Und nun hatte sich meine Familie zu Weihnachten wieder in unserem glücklichen Zuhause zusammengefunden. Gleich würde ich die Haustür öffnen und ihre Stimmen aus dem Wohnzimmer hören – wenn meine Ehefrau mich nicht schon zuvor rief und mir besorgt erklärte, dass ich mich erkälten würde. Es war in der Tat sehr kalt und mittlerweile vollkommen aufgeklart. Der Himmel war mit Sternen bedeckt, und der Vollmond hatte einen frostigen Heiligenschein. Die Feuchtigkeit und der Nebel der vergangenen Woche hatten sich wie Einbrecher in der Nacht davongestohlen, die Gartenwege und die Steinmauer des Hauses schimmerten bleich, und mein Atem rauchte in der Luft. Oben in den Mansardenzimmern schliefen Isobels drei kleine Söhne – Esmés Enkel –, und an ihren Bettpfosten hingen Strümpfe. Die Kleinen würden zwar morgen noch nicht von Schnee überrascht werden, aber wenigstens würde der Weihnachtstag klar und freundlich sein.
    Etwas hing in dieser Nacht in der Luft, etwas, das mich an meine Kindheit erinnerte und mit der Aufregung in Verbindung stand, mit der mich die kleinen Jungs angesteckt hatten, so alt ich auch war. Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass mein Seelenfrieden gestört und meine Erinnerungen, die ich für immer vergessen glaubte, wieder geweckt werden würden. Dass ich erneut Bekanntschaft mit Todesangst und psychischem Terror machen würde, wenn auch nur in eindringlichen Erinnerungen und Träumen, wäre mir in diesem Augenblick unmöglich erschienen.
    Ich gönnte mir einen letzten Blick auf die frostklirrende Dunkelheit, seufzte zufrieden, rief nach den Hunden und kehrte ins Haus zurück. Ich freute mich auf eine Pfeife und ein Glas guten Malt Whisky neben dem prasselnden Feuer im Kreis meiner Familie. Als ich zurück durch den Flur ins Wohnzimmer ging, überkam mich ein Wohlgefühl, wie ich es während meines Lebens in Monk’s Piece regelmäßig erlebt habe, ein Gefühl, das ganz natürlich in ein anderes übergeht – eine tiefe Dankbarkeit. Und natürlich war ich dankbar beim Anblick meiner Familie vor dem Kamin, wo Oliver das Feuer zu bedrohlicher Höhe schürte, nachdem er einen dicken Ast eines alten Apfelbaums nachlegte, den wir im vergangenen Herbst im Obstgarten gefällt hatten. Oliver ist Esmés ältester Sohn und hat immer noch eine verblüffende Ähnlichkeit sowohl mit seiner Schwester Isobel (die neben ihrem Ehemann, dem bärtigen Aubrey Pearce, saß) als auch mit seinem nächstjüngeren Bruder Will. Alle drei haben englische Gesichter, mit einem Hang zu Rundlichkeit
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