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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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fragte Isobel, als rede sie mit kleinen Kindern.
    »Ja, Schwesterherz, unbedingt, wenn du die richtige Atmosphäre haben willst.«
    »Aber ich bin mir ja gar nicht sicher, ob ich das will!«
    Oliver seufzte theatralisch. »Fangt endlich an!«
    Esmé beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Sie erzählen Geistergeschichten.«
    »Ja«, sagte Will, und seine Stimme hüpfte vor Aufregung und Lachen gleichermaßen. »Genau das Richtige für Heiligabend. Es ist eine alte Tradition.«
    »Ein einsames Landhaus, die Gäste kauern in einem dunklen Zimmer um den Kamin, der Wind heult vor den Fenstern …«, begann Oliver.
    »Na, dann mal los«, sagte Aubrey gutgelaunt.
    Und das taten sie. Oliver, Edmund und Will versuchten, einander mit den furchterregendsten, gruseligsten Geschichten zu übertreffen, die sie voller Dramatik zum Besten gaben. Und wahrhaftig erfand einer gespenstischere Einzelheiten als der andere. Sie erzählten von schleimigen Steinmauern in leerstehenden Burgen und efeuüberwucherten Klosterruinen bei Mondschein, von zugemauerten Kerkern und geheimen Verliesen, von übelriechenden Leichenhallen und vergessenen Friedhöfen, von unheimlichen Schritten auf knarrenden Treppen, von unsichtbaren Fingern, die ans Fenster klopften, von Heulen und Kreischen, Ächzen und Stöhnen, dem Klirren von Ketten, von vermummten Mönchen und enthaupteten Reitern, von wallenden Nebelschwaden und plötzlichen Windstößen, von durchscheinenden Geistern und Gespenstern in Leichentüchern, von Vampiren und Bluthunden, von Fledermäusen, Ratten und Spinnen, von im Morgengrauen aufgefundenen Toten, von Frauen, deren Haar über Nacht ergraute, von tobenden Irren, von verschwundenen Leichen, von verwünschten Nachkommen. Die Geschichten wurden immer grausiger, wilder und verrückter, und bald wurden die eingeschobenen Schreie und das Ächzen, die für Gänsehaut sorgen sollten, zu Lachanfällen, als jeder, selbst die vernünftige Isobel, grässliche Details beitrug.
    Anfangs war ich belustigt und hörte geduldig zu, doch allmählich fühlte ich mich als Außenseiter in ihrem Kreis. Ich versuchte, meine wachsende Unruhe zu unterdrücken, die aufsteigende Flut von Erinnerungen zu dämmen. Schließlich war es nur ein aufregender Zeitvertreib, ein harmloses Spiel für junge Leute in der Weihnachtszeit und auch eine alte Tradition, wie Will zu Recht bemerkt hatte. Nichts daran sollte mich quälen, mich beunruhigen. Es war nichts, was ich missbilligen konnte. Ich wollte kein Spielverderber sein, kein alter phantasieloser, verknöcherter Mann in ihren Augen. Ich sehnte mich danach, bei ihrem harmlosen Vergnügen entspannt mitmachen zu können. Aber innerlich trug ich einen bitteren Kampf aus und wandte den Kopf vom Feuerschein ab, damit niemand mein Gesicht sehen konnte, das, wie ich wusste, anfing, mein Unbehagen zu verraten.
    Wie zur Betonung von Edmunds gespenstischem Heulen zerfiel plötzlich das riesige, eben noch von Flammen umgebene Scheit in einem Sprühen von Funken und Asche, und es wurde noch dunkler im Zimmer und mit einem Mal totenstill. Ich schauderte. Ich wollte aufstehen und jedes einzelne Licht anmachen, wollte das Glitzern und Funkeln des bunten Christbaumschmucks sehen, wollte, dass das Feuer wieder prasselnd loderte. Ich wollte die Kälte vertreiben, die in mich kroch, und die Angst, die meine Brust umschloss. Doch ich vermochte mich nicht zu rühren, die Angst hatte mich gelähmt, wie damals. Es war ein in Vergessenheit geratenes, einst nur zu vertrautes Gefühl.
    Edmund forderte mich plötzlich auf: »Du bist an der Reihe, Stiefvater.«
    Sofort stimmten die anderen in sein Drängen ein, sogar Esmé.
    »Nein, nein«, versuchte ich scheinbar humorvoll abzuwehren. »Das ist nichts für mich.«
    »Ach komm, Arthur …«
    »Du musst doch zumindest eine Geistergeschichte kennen, jeder kennt eine …«
    O ja, und ob ich eine kannte! Die ganze Zeit, während ich ihren grausigen Geschichten gelauscht hatte, konnte ich nur an eines denken: Ach, ihr habt ja alle keine Ahnung! Was ihr euch da zusammenreimt, ist Unsinn. So ist es nicht! Nicht so blutrünstig und primitiv – nicht so … lachhaft! Die Realität sieht ganz anders aus, sie ist viel entsetzlicher!
    »Ach, komm schon!«
    »Sei kein oller Spielverderber!«
    »Arthur?«
    »Komm schon! Du wirst uns doch nicht enttäuschen?«
    Als ich es nicht länger ertrug, stand ich auf und sagte: »Es tut mir leid, aber ich muss euch wohl doch enttäuschen. Ich kann euch keine
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