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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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Abendessen. Erst als ich in Homerby auf eine Nebenstrecke umsteigen musste, wurde es etwas ungemütlicher, denn hier war es viel kälter, der Wind pfiff und brachte Regen mit sich. Und der Zug, in dem ich die letzte Stunde meiner Fahrt verbringen musste, bot so gut wie keinen Komfort. Die Bänke waren mit steifem Kunstleder über unnachgiebigem Rosshaar bezogen, und für das Gepäck hingen Holzgitter über den Sitzen. Es roch nach kaltem Ruß, die Fenster waren vor Schmutz undurchsichtig, und der Boden war dreckig. Bis zur letzten Sekunde hatte es den Anschein, als wäre ich nicht nur allein in meinem Abteil, sondern im ganzen Zug. Doch gerade, als der Schaffner zum Abfahren pfiff, hastete ein Mann durch die Schranke und ließ den Blick rasch über die trostlose Reihe leerer Wagen schweifen. Er entdeckte mich und wollte offenbar nicht allein sitzen, denn er stieg in mein Abteil ein und zog die Tür zu, als der Zug bereits losratterte. Die Wolke kalter, feuchter Luft, die er mit sich einließ, trug noch zur bereits im Abteil herrschenden Kälte bei. Während er aus seinem Mantel schlüpfte, machte ich eine Bemerkung, welch ungemütliche Nacht es doch war. Er musterte mich fragend, aber nicht unfreundlich, dann blickte er zu meinem Gepäck hinauf, bevor er mir mit einem Nicken beipflichtete.
    »Hat ganz den Anschein, als hätte ich die eine Art von schlechtem Wetter lediglich gegen eine andere ausgetauscht«, erklärte ich. »Ich habe London in dichtem Nebel verlassen, und hier ist es offenbar kalt genug, um zu schneien.«
    »Es schneit nicht«, entgegnete er. »Der Wind wird den Regen fortblasen und bis zum Morgen aufhören.«
    »Da bin ich aber froh.«
    »Wenn Sie jedoch denken, Sie seien dem Nebel durch Ihre Reise hierher entkommen, täuschen Sie sich. Wir haben in diesem Teil des Landes oft arge Frets.«
    »Frets?«
    »Ja, so nennen wir hier die Nebelschwaden, die vom Meer kommen. In Minutenschnelle ziehen sie über die Marschen von der See zum Land. Einen Moment ist es noch so klar wie an einem Junitag, im nächsten …« Er gestikulierte, um die dramatische Plötzlichkeit der Frets zu beschreiben. »Schrecklich. Aber wenn Sie in Crythin bleiben, werden Sie vom Schlimmsten verschont bleiben.«
    »Ich übernachte dort. Ich steige im GIFFORD ARMS ab. Und morgen Vormittag bin ich auch noch dort. Später werde ich wohl mehr von den Marschen zu sehen bekommen.«
    Und dann, weil ich keine Lust hatte, mich über den Grund meiner Reise mit ihm zu unterhalten, griff ich wieder nach meiner Zeitung und blätterte so ostentativ darin, dass wir eine Zeitlang schweigend in dem ungemütlichen Zug saßen. Im Hintergrund schnaufte die Lokomotive, hin und wieder hörten wir ihr Pfeifen und das Rattern der Räder auf den Schienen, dazu klopfte der Regen an die Fenster. Ich wurde der Reise, der Kälte und des Stillsitzens überdrüssig und war es leid, hin- und hergerüttelt und geschüttelt zu werden. Ich sehnte mich nach einem späten Nachtmahl, einem Feuer und einem warmen Bett. Da ich die Zeitung, hinter der ich mich versteckte, bereits gelesen hatte, dachte ich über meinen Reisegefährten nach. Er war ein großer, kräftiger Mann, mit einem vollen, roten Gesicht und gewaltigen, rauhen Händen. Seine Redeweise war nicht ungebildet, obwohl er einen eigenartigen Akzent hatte, der, wie ich annahm, dem Dialekt der Gegend entsprach. Ich hielt ihn für einen Landwirt oder Eigentümer eines kleinen Geschäfts. Sein Alter schätzte ich eher auf sechzig als auf fünfzig. Seine Kleidung war von guter Qualität, wenn auch von einem etwas zu auffälligen Schnitt, und an seiner linken Hand trug er einen schweren Siegelring, der neu aussah und für meinen Geschmack ein wenig zu protzig war. Ich schloss, dass er vor kurzem erst und unerwartet zu viel Geld gekommen war und seinen neuen Reichtum gerne zeigte.
    Nachdem ich ihn in meiner noch unreifen und vielleicht etwas spießigen Art abschätzend betrachtet hatte, ließ ich meine Gedanken nach London und zu Stella zurückwandern, um mich von der beißenden Kälte und der Unbequemlichkeit abzulenken.
    Als mein Reisegefährte plötzlich »Mrs. Drablow« sagte, zuckte ich zusammen. Ich senkte die Zeitung, und mir wurde bewusst, dass seine Stimme so laut durch das Abteil hallte, weil der Zug angehalten hatte und außer ihr, dem Ächzen des Windes und einem schwachen Zischen abgelassenen Dampfes weit voraus nichts zu hören war.
    »Drablow«, wiederholte er und deutete auf meinen beigefarbenen
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