Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten von Montmartre

Im Schatten von Montmartre

Titel: Im Schatten von Montmartre
Autoren: Léo Malet
Vom Netzwerk:
Nächtlicher
Anruf
     
     
    Die Stimme, die durch die Telefondrähte an mein
Ohr drang, war eine Säuferstimme, alters- und geschlechtslos. Offenbar hatte
der Sprecher einen handfesten Rausch.
    „Hallo! Nestor Burma?“ meldete sich die
unangenehme Stimme.
    „Höchstpersönlich... Na ja, so ungefähr“, sagte
ich.
    Ich war den ganzen Tag über und einen Teil der
Nacht hinter ein paar jungen Leuten hergerannt, von denen einer in Orléans
wohnte. Nach dem letzten Ausflug dorthin war ich dann fix und fertig wieder bei
mir zu Hause gelandet. Fix und fertig und auch ein wenig beunruhigt. Ohne die
Mithilfe eines ordentlichen Schlafmittels würde ich keinen Schlaf finden, das
war mir klar. Also verabreichte ich mir eine großzügige Dosis. Und als das
verdammte Zeug seine volle Wirkung entfaltete, hatte das — ebenfalls verdammte
— Ding geklingelt. Der Wecker auf meinem Nachttischchen zeigte zwei Uhr an.
    „Suchen Sie mich immer noch?“ fragte die Stimme.
„Ich bin Simone Coulon... Ich... Kommen Sie... schnell... Ich flehe Sie an...
Kommen Sie schnell...“
    Die Stimme war und blieb eine Säuferstimme,
schmückte sich allerdings mit pathetischem Vibrieren und lud sich mit tiefem,
aber unterdrücktem Schluchzen auf. Das Übliche. Besoffene fangen häufig an zu
heulen. Männer wie Frauen. Schließlich haben Frauen dieselben Rechte wie
Männer...
    „Rue des Mariniers 10a... Oh! ... Ich... Kommen
Sie schnell...“
    Mit diesem angsterfüllten Hilfeschrei beendete
sie das Gespräch. Ich gähnte, daß ich mir beinahe die Kiefer ausrenkte, und
legte den Hörer auf die Gabel, so gut ich es vermochte. Bei dem Versuch, die
Nachttischlampe anzuknipsen, warf ich nacheinander Aschenbecher, Pfeife und
Wecker auf den Boden. Ich kroch aus dem Bett und schwankte ins Badezimmer, um
zur Stärkung ein Glas lauwarmes Wasser zu trinken.
    Das alles ist nur die Schuld von Francis
Blanche. Er war es nämlich, der die Telefonscherze in Mode gebracht hat.
Ergebnis: „Hallo! Hier Simone Coulon. Suchen Sie mich immer noch?“ — „Ja,
Mademoiselle, aber es wundert mich sehr, daß Sie es wissen. Ich will sagen:
Wahrscheinlich ahnen Sie, daß man versucht, Sie zu finden. Aber Sie können
nicht wissen, wer damit beauftragt ist. Nun, Ihr angsterfüllter Anruf bei
Nestor Burma...“
    Mir fiel es wie Schuppen von den Augen.
Verflixt, es stimmte! Der Anruf hatte wirklich angsterfüllt geklungen! Alles
andere als ein Bluff, trotz der lallenden Säuferstimme. Ach, Nestor! Du hast
dir die richtige Nacht ausgesucht, um ein Schlafmittel zu schlucken!
    Entschlossen sprang ich unter die Dusche. Ich
hatte vergessen, meinen Pyjama auszuziehen.
     
    * * *
     
    Einige Tage zuvor hatte mich ein Herr namens
Victor Coulon besucht. Gebaut wie ein Herkules vom Jahrmarkt, etwa sechzig,
„mit nichts angefangen“, wie er selbst von sich behauptete. Wie ich jedoch
gehört hatte, hatte er eine reiche Frau geheiratet, die Tochter eines Mannes,
dem er während der Besatzung oder nach der Befreiung — also zu einer der
bewegten Zeiten, in denen enge Bande zwischen Leuten aus den
unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten geknüpft werden — aus irgendeiner Patsche
herausgeholfen hatte. Jetzt war Monsieur Coulon Chef einer blühenden
Speditionsfirma. Es war das erste Mal, daß ich ihn in meinem Büro begrüßen
durfte. Dennoch waren wir uns nicht fremd. Versichert war sein Unternehmen bei
der Internationalen Versicherungsgesellschaft, die mich von Zeit zu Zeit mit
kleineren Aufträgen versorgte. Vor ein paar Monaten hatte ich in einem
Streitfall, der auch Coulon betraf, ermitteln müssen. Dieser Coulon — ein prima
Kerl, ganz bestimmt, aber ein wenig grobschlächtig — war zur Zeit verwitwet,
und seine Tochter Simone war sein ein und alles. Leider war sie, wie er sich
ausdrückte, „eine dumme Gans“. „Eine dumme Gans, aber ich liebe sie“, knurrte
er.
    Dabei sah er so aus, als würde er sich auf mich
stürzen, falls ich ihm widerspräche.
    „Wo ich sie davon abhalten kann, Dummheiten zu
machen, werd ich’s tun“, fuhr er fort. „Sie ist übrigens noch nicht volljährig.
Es fehlen zwei Jahre. Sie will unbedingt zum Film. Meint, sie wär begabt...
Sagen Sie mir, was hat das für einen Sinn? Man weiß doch, wie so was endet...
Ganz zu schweigen davon, wie so was anfängt...“
    Allzeit bereit, gegen Vorurteile anzukämpfen,
wandte ich ein, daß es ja dennoch auch Leute gebe, die aufgrund ihres Talents
Erfolg hätten.
    „Genau da liegt der Hase im Pfeffer!“
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher