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Die Frau im Kühlschrank

Die Frau im Kühlschrank

Titel: Die Frau im Kühlschrank
Autoren: Gunnar Staalesen
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vorbei an Ole Johnny zum Fenster. Ich zog mich automatisch zurück.
    Als ich das Gesicht wieder dem Spalt näherte, war er auf dem Weg zum Fenster. Ich hörte, was er sagte, so deutlich, als stünde ich selbst im Zimmer: »Guck mal da raus! Uns gehört diese Stadt, Ole Johnny!« Mit groben Händen riß er den Vorhang zur Seite, um Ole Johnny die Stadt zu zeigen, die ihnen gehörte. Wir starrten einander direkt in die Augen.

38
    Einen Augenblick lang glaubte er, er sähe sein eigenes Spiegelbild. Dann lief sein Gesicht dunkelrot an, und er öffnete den Mund. Er sah aus, als käme er gleich durch die Scheibe.
    Ich wartete nicht ab, was er zu sagen hatte. Ich schob Elsa brutal zur Treppe, und wir stürzten hinunter.
    Die Metallstufen sangen unter uns, und Elsa stöhnte, als sie mit der Hüfte gegen das Geländer schlug. Als wir im Hof angekommen waren, hörten wir, wie oben eine Tür aufgeschlossen wurde und dann schwere Schritte auf dem Altan. Wir hatten den hohen Zaun erreicht. Ich griff um Elsas Beine und schmiß sie förmlich über den Zaun, während ich gleichzeitig einen Blick auf das Haus hinter uns warf. Nur Jonsson und Kalle kamen die Treppe herunter. Das bedeutete, daß die anderen versuchen würden, uns von der Straße her den Weg abzuschneiden. Ich sprang hoch und griff mit den Händen um die Zaunkante, zog mich hoch, schwang ein Bein hoch und warf mich hinüber. Ich landete hart und schief, und Elsa faßte meine Arme, um mir aufzuhelfen. Die Handschellen baumelten wieder lose an meinem Handgelenk.
    Eine hohe, schrille Stimme schallte uns vom Bethaus entgegen. Jemand taumelte auf der anderen Seite gegen den Zaun, und von der Straße hörte ich schnelle Schritte. Ich zeigte auf eine Hintertür und zischte: »Da rein!«
    Wir waren im Haus, bevor ich weiter nachdenken konnte. Man hörte die Stimme hier deutlicher. Wir waren im hinteren Teil eines Flurs und gingen weiter ins Haus hinein. Es war stockfinster und unmöglich, die Umgebung zu erkennen. Wir stießen auf eine Wand, und ich tastete nach einer Tür. Ich fand die Klinke, drückte sie herunter und schubste Elsa als erste durch die Öffnung. Licht flutete uns entgegen, und wir standen da und blinzelten.
    Wir waren in den Versammlungssaal gekommen. Der Raum war fast voll besetzt, und von den Stuhlreihen starrten uns verschreckte Gesichter entgegen: alte und junge, Frauen und Männer. Wir waren neben einer Bühne hereingekommen, und dort oben stand ein Prediger hinter einem Rednerpult. Es war ein Mann Anfang Vierzig, mit hagerem Gesicht, dunklem, nach hinten gekämmtem Haar und flammenden Augen. Er starrte uns an, ließ sich aber nicht aus der Fassung bringen. Seine Stimme war durchdringend und melodisch, als er sagte: »Seid willkommen, Schwester, Bruder! Im Hause des Herrn ist für alle Platz. In der ersten Reihe sind noch freie Stühle.«
    »Halleluja! Halleluja!« ertönte es vereinzelt aus der Versammlung. Wir stolperten weiter und folgten automatisch der Aufforderung. Hier waren wir unter Menschen, im Licht. Wir blieben sitzen und atmeten schwer. Eine füllige Frau zwei Stühle weiter nickte mild und lächelte mir beruhigend zu.
    Der Prediger fuhr fort, wo wir ihn unterbrochen hatten. »Nein, wir erkennen Stavanger nicht wieder, Schwestern und Brüder! Ist es nicht so? Huren und Zuhälter, Geldschneider und Sybariter! Wir leben in einem modernen Sodom und Gomorrha, in den Wirrungen der letzten Tage. Der Herr ruft seine Herde zusammen, und alle sind willkommen, aber es ist ein Weg voller Versuchungen. Und wer hat die Macht im Land, in dieser Stadt? Wen beten wir an? Wer ist es, der sich in schwarzem, fettem Öl suhlt, falscher noch als Leviathan? Es ist der Mammon, Schwestern und Brüder! Es ist der Mammon, der seine gierigen Krallen ausstreckt, der seinen giftigen Atem über die Stadt bläst, der Tausende von Menschen in einen furchtbaren Tod stößt. Und wir werden keinen Frieden finden, Schwestern und Brüder, wir werden keinen Frieden finden, bevor nicht der letzte Tropfen Öl aus dem Meeresboden dort draußen herausgepumpt ist …« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er mit leiser, fast flüsternder Stimme sagte: »Oder bevor der Herr Jesus Christus selbst wieder mitten unter uns wandelt.«
    »Halleluja!« erklang es um uns herum. »Halleluja!«
    Dann ging mit einem Knall die hintere Tür auf, und Kalle und Jonsson taumelten herein, halbblind, wie wir es gewesen waren. Kalle polterte vorwärts wie ein Frankenstein-Monster, und Jonsson
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