Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau im Kühlschrank

Die Frau im Kühlschrank

Titel: Die Frau im Kühlschrank
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
sehne mich auch danach, dich zu sehen.«
    »Ich – können wir uns treffen, gleich, heute?«
    »Du hörst dich fast – das hört sich an, als wäre es etwas Ernstes.«
    Sie sagte schnell: »Es ist so komisch, wenn wir getrennt waren, so wie jetzt – eine ganze Woche –, dann ist es, als ob ich – als ob ich erst dann wirklich alles überblicke, aus einer neuen Perspektive, verstehst du?«
    Ich verspürte ein unbehagliches Gefühl in der Magengegend. »Ich muß erst zu meiner Klientin, aber – kannst du hierherkommen, etwas später? Oder können wir uns irgendwo anders treffen?«
    »Ich komme zu dir. Wann soll ich kommen?«
    Ich sah auf die Uhr. »Drei, halb vier? Geht das?«
    »Ja, gut. Tschüß, bis dann.«
    »Tschüß.«
    Meine Blicke schweiften aus dem Fenster, wieder hinauf zu Fløyen. Weiße Hänge, saubere Loipen – geradewegs in die Ewigkeit. Dann schüttelte ich das unbehagliche Gefühl ab, wurde an der Tür wieder eins mit mir selbst und machte mich auf den Weg zu Frau Samuelsen.

41
    Frau Samuelsen war um zehn Jahre gealtert seit dem letzten Montag. Die faltige Haut in ihrem Gesicht war noch trockener geworden, noch holziger, und die Augen waren stumpf und milchigweiß. Sie bewegte sich mit noch größerer Anstrengung, und ich mußte an mich halten, sie nicht zu stützen.
    Drinnen im Wohnzimmer herrschte ein merkwürdiges Halbdunkel. Nur eine Wandleuchte brannte, und da eine der beiden Glühbirnen durchgebrannt war, hatte die andere große Probleme, mit ihrem Licht den goldbraunen, dichten Lampenschirm zu durchdringen. Das Portrait der Tochter – Ragnhild – stand immer noch auf dem großen Sekretär. Wir saßen da und sahen einander an. Ich wußte nicht recht, wie ich anfangen sollte. Sie hatte überhaupt nichts zu sagen. Als wir endlich sprachen, war es gleichzeitig.
    Ich sagte: »Ich weiß nicht …«
    Sie sagte: »Die Polizei …«
    Dann hielten wir beide inne, und die Stille wurde noch drückender, wenn das möglich war,
    Ich versuchte es erneut: »Es wäre um vieles leichter gewesen, Frau Samuelsen, in vieler Hinsicht, wenn Sie mir von Anfang an alles erzählt hätten.«
    »Es gab nichts zu erzählen«, sagte sie trotzig. »Wenn er – wenn sie nur verschwunden gewesen wäre, wenn Sie sie gefunden hätten – ich konnte ihr Geheimnis nicht verraten, ihr Leben nicht verraten, nur weil ich selbst – ängstlich war.«
    »Aber als sie von dieser Frau hörten – im Kühlschrank. Sie müssen doch daran gedacht haben – an die Möglichkeit.«
    »Sie verstehen nicht …«, sagte sie.
    »Doch – ich glaube, ich …«
    »Ich hoffte doch, daß es nicht sie – daß es – eine andere gewesen sei.«
    Ich nickte.
    Jetzt war es an ihr, die Stille zu durchbrechen. Ihre Stimme war leise und monoton. Sie sprach nicht, weil sie dazu Lust hatte, sondern weil sie wahrscheinlich das Gefühl hatte, daß ich in gewisser Weise ein Recht hatte, es zu erfahren. »Es war schrecklich, dieses Geheimnis mit sich herumzutragen. So viele Jahre. Ich erlebte sie ja – während ihrer ganzen Entwicklung, erlebte, daß ihre Interessen … die Kleidung, die sie gern trug, die Nachlässigkeit, daß sie gern mit Jungen spielte, als sie klein war und – als Teenager auch. Sie – ich glaubte nicht, daß es etwas mit einer sexuellen Neigung zu tun hatte.« Sie sprach das Wort aus, ohne aufzusehen, typisch für ihre Generation. »Es war eher so, daß sie sich dort zugehörig fühlte, bei den Jungs, den Kumpels.«
    Jetzt hob sie den Blick, wie um sich zu vergewissern, daß ich zuhörte, daß ich aufpaßte. Ich nickte, um zu zeigen, daß ich zuhörte, sagte aber nichts.
    »Mein Mann hätte es nie zugelassen, daß sie sich veränderte. Deshalb wartete sie so lange, bis er starb, 1972. Aber dann, im Laufe eines Monats, passierte alles auf einmal, und ich konnte nichts dagegen tun, konnte nicht protestieren. Dann hätte ich sie ganz verloren, verstehen Sie?«
    Ich nickte.
    Ihre Stimme zitterte leicht. »Also – also starb meine Tochter 1972, und statt dessen bekam ich einen Sohn.«
    »Den Sie Arne nannten.«
    »Wir waren uns immer einig gewesen«, murmelte sie, »daß, wenn wir einen Sohn bekämen, er Arne heißen sollte.« Sie war weit, weit weg, als sie hinzufügte: »Ich hätte so gern – Enkelkinder gehabt …«
    Nach einer Pause sagte sie: »Wollen Sie noch mehr wissen?«
    Ich sagte mit Bedauern in der Stimme: »Eigentlich sollte ich ja erzählen.«
    Sie sagte knapp: »Ich will nichts mehr hören. Die Polizei hat alles
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher