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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden
Autoren: Audrey Niffenegger
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Vorderveranda.« Ben sieht mich an. »Ich mach mir ein bisschen Sorgen um ihn. Er wirkt so traurig. Er war...« Ben verstummt, macht eine Handbewegung, die so viel bedeutet wie vielleicht täusche ich mich ja auch, »er hat mich an manche Patienten erinnert, wenn sie damit rechnen, nicht mehr lange unter uns zu weilen...« Mir zieht sich der Magen zusammen.
    »Seit der Sache mit den Füßen ist er sehr deprimiert...«
    »Ich weiß. Aber er hat geredet, als steige er in einen Zug, der jeden Augenblick abfährt, verstehst du, er hat gesagt...«, Ben senkt die Stimme, die ohnehin immer sehr leise ist, so dass ich ihn kaum verstehen kann: »Er hat gesagt, er liebe mich und möchte mir danken ... ich meine, solche Sachen sagt doch niemand, sagt kein Mann, wenn er davon ausgeht, dass alles normal läuft.« Bens Augen schimmern feucht hinter den Brillengläsern, und ich nehme ihn in den Arm, halte seinen geschundenen Körper fest, und so stehen wir eine Weile da. Um uns herum plaudern Leute und ignorieren uns. »Ich will keinen überleben«, sagt Ben. »Himmel. Nachdem ich dieses grässliche Zeug getrunken habe und fünfzehn Jahre lang praktisch ein Märtyrer war, hab ich mir doch wohl das Recht verdient, dass alle meine Bekannten hinter meinem Sarg defilieren und sagen: >Er wurde mitten aus dem Leben gerissen.< Oder so was in der Richtung. Ich zähle darauf, dass Henry dabei ist und Donne zitiert: >Tod, sei nicht stolz, du blöder Arsch.< Das wird herrlich.«
    Ich muss lachen. »Also, wenn Henry es nicht schafft, werde ich kommen und eine schlechte Parodie von ihm geben.« Ich ziehe eine Braue hoch, hebe mein Kinn, senke die Stimme: »Nach kurzem Schlaf geht’s ewiger Wachheit zu, Und Gevatter Tod wird um drei Uhr morgens in seiner Unterwäsche in der Küche sitzen und das Kreuzworträtsel der letzten Woche lösen...« Ben biegt sich vor Lachen. Ich küsse ihn auf die bleiche, glatte Wange und gehe weiter.
    Henry sitzt allein auf der Vorderveranda im Dunkeln und beobachtet die Schneeflocken. Ich habe fast den ganzen Tag nicht aus dem Fenster gesehen und stelle erstaunt fest, dass es seit Stunden beständig geschneit hat. Schneepflüge rattern die Lincoln Avenue entlang, und unsere Nachbarn schippen ihre Fußwege. Es ist kalt hier, obwohl die Veranda umbaut ist.
    »Komm mit rein«, sage ich zu Henry. Ich stehe neben ihm und beobachte einen Hund, der auf der anderen Straßenseite im Schnee herumtollt. Henry legt mir den Arm um die Taille und lehnt den Kopf an meine Hüfte.
    »Ich wünschte, wir könnten jetzt die Zeit anhalten«, sagt er. Ich fahre ihm mit den Fingern durchs Haar. Es ist dicker und struppiger als früher, bevor es grau wurde.
    »Clare.«
    »Henry.«
    »Es ist so weit...« Er hält inne.
    »Was?«
    »Es... Ich werde...«
    »Mein Gott.« Ich setze mich auf den Diwan und sehe Henry an. »Aber ... nein. Du musst einfach ... bleiben.« Ich drücke seine Hände ganz fest.
    »Es ist schon geschehen. Komm, lass mich bei dir sitzen.« Er schwingt sich vom Rollstuhl auf den Diwan. Wir legen uns auf den kalten Stoff. Ich zittere in meinem dünnen Kleid. Die Leute im Haus lachen und tanzen. Henry legt den Arm um mich und wärmt mich.
    »Warum hast du es mir nicht erzählt? Warum hast du mich die vielen Leute einladen lassen?« Ich möchte mich nicht ärgern, tue es aber trotzdem.
    »Ich will nicht, dass du allein bist... danach. Und ich wollte mich von allen verabschieden. Es war gut, war ein schönes letztes Hurra...« Eine Weile liegen wir schweigend da. Der Schnee fällt lautlos zur Erde.
    »Wie spät ist es?«
    Ich sehe auf die Uhr. »Kurz nach elf.« O Gott. Henry nimmt eine Decke vom anderen Stuhl, und wir wickeln uns darin ein. Ich kann es nicht fassen. Mir war klar, dass es bald so kommen würde, früher oder später kommen musste, aber jetzt ist es so weit, und wir liegen einfach da und warten...
    »Warum können wir denn nichts tun?«, flüstere ich in Henrys Hals.
    »Clare...« Henry hält mich im Arm. Ich schließe die Augen.
    »Halt es auf. Lass nicht zu, dass es geschieht. Ändere etwas.«
    »Ach, Clare.« Henrys Stimme ist leise. Ich blicke zu ihm auf, und im vom Schnee reflektierten Licht sehe ich in seinen Augen Tränen schimmern. Ich lege meine Wange an seine Schulter. Er streichelt mir übers Haar. So liegen wir eine ganze Weile da. Henry schwitzt. Ich fasse ihm an die Stirn, er glüht wie im Fieber.
    »Wie spät ist es?«
    »Fast Mitternacht.«
    »Ich hab Angst.« Ich hake meine Arme bei ihm unter,
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