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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden
Autoren: Audrey Niffenegger
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da war, um als Maßstab zu dienen. Als ich klein war, konnte ich das nicht verstehen, doch inzwischen weiß ich, dass Abwesenheit sehr präsent sein kann, wie ein kaputter Nerv, wie ein dunkler Vogel. Müsste ich ohne dich weiterleben, ich weiß, es wäre mir unmöglich. Aber ich habe Hoffnung, ich habe diese Vision von dir, dass du unbelastet weitergehst, dein Haar glänzend in der Sonne. Ich habe dieses Bild nicht mit eigenen Augen gesehen, sondern nur in meiner Phantasie, die Bilder schafft und die dich immer malen wollte, strahlend; dennoch hoffe ich, meine Vision wird sich erfüllen.
    Clare, da ist noch etwas, und ich habe gezögert, ob ich es dir sagen soll, weil ich auf abergläubische Weise befürchte, es auszusprechen könnte dazu führen, dass es nicht geschieht (albern, ich weiß), und weil ich mich eben darüber ausgelassen habe, dass du nicht warten sollst und dies dich veranlassen könnte, ganz besonders lange zu warten. Dennoch will ich es dir sagen, für den Fall, dass du etwas brauchst, danach.
    Als ich letzten Sommer einmal bei Kendrick im Wartezimmer saß, fand ich mich plötzlich in einem dunklen Flur wieder, in einem Haus, das ich nicht kenne. Irgendwie stolperte ich über lauter Gummistiefel, es roch nach Regen. Am Ende des Flurs konnte ich einen Lichtrand um eine Tür erkennen, also ging ich ganz langsam und ganz ruhig zu der Tür und schaute hinein. Das Zimmer war weiß gestrichen und hell erleuchtet von der Morgensonne. Am Fenster saß mit dem Rücken zu mir eine Frau, sie trug eine korallenrote Strickjacke, ihre langen weiße Haare hingen ihr lose über den Rücken. Auf einem Tisch neben ihr stand eine Tasse Tee. Wahrscheinlich machte ich ein Geräusch oder sie spürte mich hinter sich, jedenfalls drehte sie sich um und sah mich, und ich sah sie, und das warst du, Clare, das warst du als alte Frau, in der Zukunft. Es war wunderschön, Clare, unbeschreiblich schön, so gleichsam aus dem Tod zu kommen und dich zu umarmen, und die vielen Jahre deutlich in deinem Gesicht zu sehen. Ich will dir nicht mehr erzählen, damit du es dir vorstellen, damit du es spontan erleben kannst, wenn die Zeit kommt, und sie wird kommen, ganz bestimmt. Wir werden uns Wiedersehen, Clare. Bis dahin lebe dein Leben, sei in der Welt, die so schön ist.
    Nun ist es dunkel und ich bin sehr müde. Ich liebe dich, auf immer und ewig. Zeit bedeutet nichts.
    Henry

DASEIN
Samstag, 12. Juli 2008 (Clare ist 37)
     
    Clare: Charisse ist mit Alba, Rosa, Max und Joe beim Rollschuhfahren im Rainbo. Ich fahre bei ihr vorbei, um Alba abzuholen, bin jedoch zu früh dran, und Charisse hat gemeint, sie verspätet sich. Gomez öffnet mit einem Handtuch um die Hüften die Tür.
    »Komm doch rein«, sagt er und reißt die Tür weit auf. »Willst du einen Kaffee?«
    »Klar.« Ich folge ihm durch das chaotische Wohnzimmer in die Küche. Dort setze ich mich an den Tisch, der noch mit Frühstücksgeschirr übersät ist, und räume mir eine Stelle frei, die groß genug ist, um die Arme aufzustützen. Gomez rumort in der Küche herum und macht Kaffee.
    »Hab dich lange nicht gesehen.«
    »Ich hatte viel zu tun. Alba nimmt alle möglichen Stunden, und ich fahre sie ständig durch die Gegend.«
    »Machst du nebenbei auch Kunst?« Gomez stellt eine Tasse mit Untertasse vor mich hin und schenkt Kaffee ein. Milch und Zucker stehen bereits auf dem Tisch, also bediene ich mich.
    »Nein.«
    »Aha.« Gomez lehnt an der Küchentheke, die Hände um seine Kaffeetasse geschlungen. Sein Haar ist dunkel vom Wasser und glatt nach hinten gekämmt. Bis jetzt ist mir nie aufgefallen, dass sein Haaransatz zurückgeht. »Und was, außer ihre Hoheit herumzuchauffieren, machst du sonst noch?«
    Was ich sonst noch mache? Ich warte. Ich denke. Ich sitze auf unserem Bett und halte ein altes kariertes Hemd in der Hand, das noch nach Henry riecht, sauge seinen Duft tief in mich ein. Nachts um zwei mache ich Spaziergänge, wenn Alba wohlbehalten in ihrem Bett liegt, lange Spaziergänge, damit ich müde werde und schlafen kann. Ich unterhalte mich mit Henry, als wenn er bei mir wäre, als wenn er durch meine Augen sehen, mit meinem Kopf denken könnte.
    »Nicht viel.«
    »Hmm.«
    »Und du?«
    »Ach, du weißt schon. Ich gebe den Stadtrat. Spiele den strengen Familienvater. Das Übliche.«
    »Aha.« Ich trinke einen Schluck Kaffee, werfe einen Blick auf die Uhr über der Spüle. Sie hat die Form einer schwarzen Katze: Der Schwanz schwingt hin und her wie ein Pendel, und die
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