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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden
Autoren: Audrey Niffenegger
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schlinge meine Beine um die seinen. Mir ist unvorstellbar, dass Henry, so präsent, mein Geliebter, dieser Mensch aus Fleisch und Blut, den ich mit aller Kraft an mich drücke, jemals verschwinden könnte: »Küss mich!«
    Ich küsse Henry, und dann bin ich allein, unter der Decke, auf dem Diwan, auf der kalten Veranda. Es schneit immer noch. Im Haus wird die Platte angehalten, ich höre Gomez sagen »Zehn! Neun! Acht!«, und dann sagen alle gemeinsam »sieben! sechs! fünf! vier! drei! zwei! eins! Frohes neues Jahr!« Ein Sektkorken knallt, alle fangen an gleichzeitig zu reden, und jemand fragt: »Wo sind eigentlich Henry und Clare?« Draußen auf der Straße zündet jemand Knallkörper. Ich lege den Kopf in die Hände und warte.

III - EINE ABHANDLUNG ÜBER SEHNSUCHT
    ... und schreib, dass ich
    Dies Testament im dreiundvierzigsten Jahr
    Verfasst. An meiner Zeit End, meiner Zeit,
    In der ich die Unendlichkeit geschaut 
    Durch Risse in der Dinge Haut und starb daran.
     
    Antonia S. Byatt, Besessen
     
     
    Sie folgte langsam und sie brauchte lang 
    Als wäre etwas noch nicht überstiegen;
    Und doch: Als ob, nach einem Übergang, 
    sie nicht mehr gehen würde, sondern fliegen.
     
    aus Die Erblindende Rainer Maria Rilke (Paris 1906)

Samstag, 27. Oktober 1984/Montag, 1. Januar2007
(Henry ist 43, Clare 35)
     
    Henry: Der Himmel ist leer und ich falle ins hohe trockene Gras, bitte lass es schnell gehen, und obwohl ich versuche still zu liegen, ertönt in der Ferne ein Schuss, bestimmt hat das nichts mit mir zu tun, aber nein: Es reißt mich zu Boden, ich betrachte meinen Bauch, der sich wie ein Granatapfel geöffnet hat, eine Suppe aus Eingeweiden und Blut schwappt in der Schüssel meines Körpers; es tut gar nicht weh, wie ist das möglich?, aber ich kann nur die kubistische Version meiner Innereien bewundern, jemand kommt herbeigerannt ich will nur Clare sehen bevor bevor- ich schreie ihren Namen Clare, Clare und Clare beugt sich über mich, sie weint, und Alba flüstert: »Daddy...«
    »Liebe dich...«
    »Henry!«
    »Immer und ewig...«
    »O Gott, o Gott!«
    »Welt genug...«
    »Nein!«
    »Und Zeit...«
    »Henryl«
     
    Clare: Im Wohnzimmer ist es ganz still. Alle stehen unbeweglich da, wie erstarrt, und blicken auf uns herab. Billie Holiday singt, und dann schaltet jemand den CD-Player aus und es herrscht Schweigen. Ich sitze auf dem Boden und halte Henry im Arm. Alba kauert über ihm, flüstert ihm ins Ohr, schüttelt ihn. Henrys Haut ist noch warm, seine Augen sind offen, starren an mir vorbei, er ist schwer in meinen Armen, furchtbar schwer, seine blasse Haut ist aufgeplatzt, alles ist rot, zerfetztes Fleisch umrahmt ein blutiges Geheimnis. Ich wiege Henry. Aus einem Mundwinkel rinnt Blut. Ich wische es ab. Irgendwo in der Nähe explodieren Knallfrösche.
    Gomez sagt: »Ich glaube, wir rufen lieber die Polizei.«

AUFLÖSUNG
Freitag, 2. Februar 2007 (Clare ist 35)
     
    Clare: Ich schlafe den ganzen Tag. Geräusche huschen durchs Haus - ein Müllwagen in der Gasse, Regen, ans Fenster klopfende Zweige. Ich schlafe. Ich habe mich fest im Schlaf eingerichtet, zwinge ihn herbei, halte ihn, schiebe Träume weg, ich will nicht, will nicht. Der Schlaf ist jetzt mein Liebhaber, mein Vergessen, mein Opiat, mein Nichts. Das Telefon klingelt und klingelt. Ich habe den Anrufbeantworter, der sich mit Henry meldet, abgeschaltet. Es ist Nachmittag, es ist Abend, es ist Morgen. Alles ist auf dieses Bett reduziert, diesen endlosen Schlummer, der die Tage zu einem einzigen Tag gerinnen lässt, der die Zeit anhält, der die Zeit dehnt und zusammendrängt, bis sie bedeutungslos wird.
    Manchmal lässt mich der Schlaf im Stich und dann tue ich, als wenn Etta gekommen wäre und mich zur Schule wecken will. Ich atme langsam und tief. Ich halte die Augen unter den Lidern still, ich halte mein Denken still, und bald kommt der Schlaf, um sich, kaum sieht er das perfekte Abbild seiner selbst, mit seinem Faksimile zu vereinen.
    Manchmal wache ich auf und taste nach Henry. Der Schlaf löscht alle Unterschiede aus: damals und jetzt, tot und lebendig. Ich bin weit entfernt von Hunger, Eitelkeit, Sorgfalt. Heute Morgen habe ich einen Blick von meinem Gesicht im Badezimmerspiegel erhascht. Meine Haut ist wächsern, ich bin hager, habe Augenringe, verfilzte Haare. Ich sehe aus wie tot. Ich will nichts.
    Kimy sitzt am Fußende des Bettes. »Clare?«, sagt sie. »Alba ist aus der Schule zurück... willst du sie nicht hereinlassen, sie
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