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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden
Autoren: Audrey Niffenegger
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begrüßen?« Ich tue, als wenn ich schlafe. Albas kleine Hand streichelt mein Gesicht. Tränen sickern mir aus den Augen. Alba stellt etwas - ihren Rucksack? ihren Geigenkasten? - auf dem Boden ab, und Kimy sagt: »Zieh deine Schuhe aus, Alba«, und dann krabbelt Alba zu mir ins Bett. Sie schlingt meinen Arm um sich, steckt ihren Kopf unter mein Kinn. Seufzend öffne ich die Augen. Alba stellt sich schlafend. Ich betrachte ihre dichten schwarzen Wimpern, den breiten Mund, die blasse Haut. Sie atmet gleichmäßig, umklammert meine Hüfte mit ihrer kräftigen Hand, sie riecht nach Bleistiftschnipseln, Harz und Shampoo. Ich küsse sie aufs Haar. Alba öffnet die Augen, und ihre Ähnlichkeit mit Henry ist beinahe mehr, als ich ertragen kann. Kimy steht auf und geht aus dem Zimmer.
    Später stehe ich auf, stelle mich unter die Dusche, esse mit Kimy und Alba am Tisch zu Abend. Als Alba im Bett liegt, setze ich mich an Henrys Schreibtisch, öffne die Schubladen, nehme ein Bündel mit Briefen und Papieren heraus und beginne zu lesen.
Ein Brief, zu öffnen im Falle meines Todes
    10. Dezember 2006
    Liebste Clare,
    während ich dies schreibe, sitze ich an meinem Schreibtisch im hinteren Schlafzimmer und blicke über den bläulichen Abendschnee im Hof auf dein Atelier. Alles ist glatt und mit einer Eiskruste überzogen, und es ist sehr still. Es ist einer dieser Winterabende, an dem allgegenwärtige Kälte die Zeit zu verlangsamen scheint, als riesle die Zeit durch die schmale Mitte einer Eieruhr, langsam, ganz langsam. Ich habe das Gefühl, das mir sehr vertraut ist, wenn ich nicht in der Gegenwart bin, das ich sonst aber so gut wie nie empfinde, nämlich, dass die Zeit mich trägt und ich mühelos auf ihrer Oberfläche treibe wie eine dicke Schwimmerin. Vorhin, als ich so allein hier im Haus war (du bist bei Alicias Konzert in der St.-Lucy-Kirche), verspürte ich plötzlich den heftigen Wunsch, dir einen Brief zu schreiben. Auf einmal wollte ich etwas hinterlassen, für danach. Ich glaube, die Zeit wird jetzt knapp. Mir ist, als seien meine Reserven an Energie, an Freude, an Durchhaltekraft dürftig und beschränkt. Ich fühle mich nicht in der Lage, noch sehr viel länger weiterzumachen. Ich weiß, dass auch du das weißt.
    Wenn du diese Zeilen liest, bin ich vermutlich tot. (Ich sage vermutlich, weil man nie weiß, wie die Verhältnisse sich entwickeln; außerdem erscheint es mir dumm und arrogant, den eigenen Tod als ausgemachte Tatsache hinzustellen.) Was meinen Tod betrifft, so hoffe ich, er war schlicht, sauber und eindeutig. Ich hoffe, er hat nicht zu viele Umstände gemacht. Es tut mir Leid. (Das Ganze liest sich wie ein Selbstmordbrief. Komisch.) Aber du weißt: Du weißt genau, dass ich, wenn ich hätte bleiben, wenn ich hätte weitermachen können, jede Sekunde festgehalten hätte: Wie immer er verlaufen sein mag, dieser Tod, du weißt, er kam und hat mich geholt, wie ein Kind, das von Kobolden entführt wird.
    Clare, ich möchte dir noch einmal sagen: Ich liebe dich. Unsere Liebe war der Faden durch das Labyrinth, das Netz unter dem Drahtseiltänzer, der einzige Fixpunkt in meinem sonderbaren Leben, auf den ich vertrauen konnte. Heute Abend ist mir, als hätte meine Liebe zu dir eine größere Dichte in dieser Welt als ich selbst: Als könnte sie nach mir fortbestehen und dich umgeben, dich tragen, dich halten.
    Ich finde es schrecklich, mir vorzustellen, dass du wartest. Dein ganzes Leben hast du auf mich gewartet, immer im Ungewissen, wie lange die nächste Wartephase dauern wird. Zehn Minuten, zehn Tage. Ein Monat. Ich bin dir ein unsteter Mann gewesen, Clare, ein Matrose, Odysseus, allein auf hoher See hin und her geworfen, mal listig, mal nur ein Spielzeug der Götter. Bitte, Clare. Wenn ich tot bin. Hör auf zu warten und sei frei. Von mir - bewahre mich tief in dir, dann geh hinaus in die Welt und lebe. Liebe die Welt und dich selbst darin, bewege dich durch sie, als böte sie keinen Widerstand, als sei sie dein natürliches Element. Durch mich warst du in einer Welt der vorübergehenden Leblosigkeit. Damit will ich nicht sagen, dass du nichts getan hast. Du hast Schönheit und Sinn geschaffen, in deiner Kunst und mit Alba, die so unglaublich ist, und für mich: Du warst mein Ein und Alles.
    Der Tod meiner Mutter hat meinen Vater vollkommen aufgezehrt. Sie hätte das nie und nimmer gewollt. Jede Minute seines Lebens war seitdem von ihrer Abwesenheit geprägt, jeder Handlung fehlte Bedeutung, weil sie nicht
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